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Ich erzählte von meinen Überlegungen über Kohlers Motive, von Hélènes Verdacht, er sei gezwungen worden, den Mord zu begehen, berichtete auch von meiner Begegnung mit Daphne, von meinem Besuch bei der echten Monika Steiermann und vom Auftauchen Bennos in meinem Büro.

«Junger Mann, haben Sie eine Chance«, staunte Stüssi-Leupin und schenkte sich erneut Wein ein.

«Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen«, antwortete ich unsicher.

«Natürlich verstehen Sie«, entgegnete Stüssi-Leupin; —»sonst wären Sie nicht zu mir gekommen. Machen wir einmal das Spiel Kohlers mit. Einmal angenommen, er sei nicht der Mörder, ist ein anderer Mörder verdammt leicht zu finden. Es kann nur Benno sein, darum schlottert er ja. Er hat über zwanzig Millionen von der vermeintlichen Steiermann durchgebracht, Winter hat die echte Steiermann aufgeklärt, die Verlobung geht in Brüche, Benno wird ruiniert, schießt Winter im >Du Théâtre< über den Haufen. Voilà. Das ist die Version, die Ihr Auftraggeber braucht und die Sie brauchen werden.»

Stüssi-Leupin hielt sein Glas gegen das Licht der Stehlampe. Vom Städtchen her tutete es herauf, minutenlang, nach den stehenden Lichtern der Scheinwerfer zu schließen, hatten sich die Autokolonnen ineinander verkeilt.

Stüssi-Leupin lachte:»Ausgerechnet einem Grünschnabel wie Ihnen muß der schönste Revisionsprozeß des Jahrhunderts in den Schoß fallen.»

«Ich habe keinen Auftrag, einen Revisionsprozeß zu führen«, sagte ich.

«Der Auftrag, den Sie angenommen haben, führt dazu.»

«Kohler hat Winter ermordet«, stellte ich fest.

Stüssi-Leupin wunderte sich.»Na und?«sagte er.»Sind Sie dabeigewesen?»

Hinten im Raum kam eine schwarze Gestalt die Holztreppe herunter und hinkte auf uns zu.

Beim Näherkommen erkannte ich, daß es sich um einen Priester handelte, der eine kleine schwarze Handtasche trug. Er blieb etwa drei Meter vor Stüssi-Leupin stehen, hustete, die Scheiben tauchten wieder herauf, die Scheinwerfer setzten ein, die granitenen Götter warfen ihre Schatten in den wieder geschlossenen Raum. Der Priester war uralt, schief, verrunzelt und hatte einen Klumpfuß.

«Ihre Frau hat die Letzte Ölung bekommen«, sagte er.

«In Ordnung«, sagte Stüssi-Leupin.

«Ich werde für sie beten«, versicherte der Priester.

«Für wen?«fragte Stüssi-Leupin.

«Für Ihre Frau«, präzisierte der Priester.

«Ihr Beruf«, antwortete Stüssi-Leupin gleichgültig und schaute auch nicht hin, als der Priester etwas murmelte und dem Ausgang zuhinkte, wo ihm die Hausdame, die auch mich hereingelassen hatte, die Türe öffnete.

«Meine Frau liegt im Sterben«, meinte Stüssi-Leupin beiläufig und trank sein Glas aus.

«Unter diesen Umständen…«, stammelte ich und erhob mich.

«Mein Gott, Spät, sind Sie zimperlich«, sagte Stüssi-Leupin.»Nehmen Sie wieder Platz!»

Ich setzte mich, er schenkte sich neu ein. Die Glaswände versanken in die Erde, die Scheinwerfer erloschen, wir saßen wieder im Freien.

Stüssi-Leupin starrte vor sich hin.

«Meine Frau hat die Größe, mir die Tortur zu ersparen, ihrem Sterben beizuwohnen«, sagte er, und es klang gleichgültig,»dazu ist der Priester bei ihr gewesen, und jetzt sind der Arzt und eine Krankenschwester bei ihr. Meine Frau, Spät, sie ist nicht nur saulebenslustig gewesen, saureich und saukatholisch, sie ist auch sauschön. Komisch, unser Schweizerdeutsch. Sie hat mich ein Leben lang betrogen. Der Arzt, der bei ihr sitzt, ist ihr letzter Liebhaber gewesen. Aber ich verstehe sie. Ein Mann wie ich ist Gift für die Weiber.»

Er lachte vor sich hin, wechselte dann unvermittelt das Thema.

Ich sei ein Narr, meinte er, ich hielte Dr. Isaak Kohler für schuldig. Er, Stüssi-Leupin, auch. Zwar widersprächen sich alle Zeugen, zwar sei die Mordwaffe nie gefunden worden, zwar fehle ein Motiv. Trotzdem. Wir hielten ihn für schuldig. Warum? Weil der Mord in einem überfüllten Restaurant geschehen sei. Die Anwesenden hätten es irgendwie bemerkt, auch wenn sie sich nun widersprächen. Wir wüßten es also nicht unbedingt, aber wir glaubten es unbedingt. Das habe ihn schon beim Prozeß gewundert. Weder sei nach dem Revolver gefragt noch seien Zeugen vernommen worden, auch habe sich der Richter mit der Aussage des Kommandanten zufriedengegeben, der zwar bei der Tat in der Nähe gesessen sei, aber weder erwähnt habe, ob er den Mord direkt gesehen oder Zeugen vernommen hatte, dazu sei der Verteidiger eine Niete und Jämmerlin in Hochform gewesen. Wir hätten unsere liebe Mühe, unser Wissen über Kohlers Schuld unserem Glauben an Kohlers Schuld anzugleichen. Unser Wissen hinke unserem Glauben hinterher, ein geschickter Verteidiger fabriziere allein aus dieser Diskrepanz schon einen Freispruch. Doch sollten wir unserem guten Jämmerlin noch eine Chance geben, nach einem Motiv zu suchen. Kohler habe mir den lukrativen Auftrag zugeschanzt, weil ich nichts von Billard verstehe. Ich hätte daraus den Schluß gezogen — er habe aufmerksam zugehört —, Kohler hätte getötet, um zu beobachten, gemordet, um die Gesetze der Gesellschaft zu untersuchen, und nur deshalb sein Motiv nicht angegeben, weil er damit vor Gericht keinen Glauben gefunden hätte. Lieber Freund, er könne dazu nur sagen, so ein Motiv sei zu literarisch, Schriftsteller erfänden solche Motive, wenn er auch glaube, bei einem Mann wie Kohler müsse es sich um ein besonderes Motiv handeln. Aber um welches?

Stüssi-Leupin überlegte.

«Sie haben den falschen Schluß gezogen«, sagte er dann.»Weil Sie von Billard nichts verstehen. Kohler hat à la bande gespielt.»

«A la bande«, erinnerte ich mich.»Das hat Kohler einmal gesagt. Beim Billard im >Du Théâtre<. >A la bande, so muß man den Benno schlagen.<»

«Und wie hat er gespielt?«fragte Stüssi-Leupin.

«Ich weiß nicht recht«, dachte ich nach.»Kohler hat die Kugel an die Umrandung gespielt, von dort ist die Kugel zurückgeprallt und hat Bennos Kugel getroffen.»

Stüssi-Leupin schenkte sich Wein ein.

«Kohler hat Winter erschossen, um Benno zu erledigen.»

«Warum denn?«fragte ich verständnislos.

«Spät, Sie sind auch gar zu naiv«, wunderte sich Stüssi-Leupin.»Dabei hat Ihnen die Steiermann das Stichwort geliefert. Kohler führt ihre Geschäfte. Auch vom Zuchthaus aus. Der flechtet nicht nur Körbe. Die Steiermann braucht Kohler, und Kohler braucht die Steiermann, Lüdewitz ist Attrappe. Aber wer ist Herr, wer Knecht? Irgendwie hat Kohlers Tochter recht. Es war ein Gefälligkeitsmord. Warum nicht? Auch eine Art Erpressung. Die Abermillionen liegen bei der Steiermann, die zwanzig Millionen waren ihre zwanzig Millionen, da wird Kohler gespurt haben, und so hat er über Winter Benno erledigt. Auf Wunsch der Steiermann. Vielleicht brauchte sie den Wunsch gar nicht auszusprechen. Vielleicht hat er ihn nur erraten.»

«Eine noch wahnwitzigere These als die Wahrheit«, sagte ich.»Die Steiermann hat Benno geliebt, weil Daphne ihn geliebt hat, und hat ihn erst fallenlassen, als Daphne sie verlassen hat.»

«Eine realistischere These als die Wahrheit. Die ist meistens unglaubhaft«, entgegnete er.

«Ihre These wird kein Mensch abnehmen«, sagte ich.

«Die Wahrheit wird kein Mensch abnehmen«, antwortete er,»kein Richter, kein Geschworener, nicht einmal Jämmerlin. Sie spielt sich in Etagen ab, die für die Justiz unerreichbar sind. Die einzige These, die der Justiz einleuchten wird, kommt es zum Revisionsprozeß, ist die, daß Dr. Benno der Mörder ist. Er allein hat ein handfestes Motiv. Auch wenn er unschuldig ist.»

«Auch wenn er unschuldig ist?«fragte ich.

«Stört Sie das?«antwortete er.»Auch seine Unschuld ist eine These. Er ist der einzige, der den Revolver hätte verschwinden lassen können. Mein Bester, führen Sie den Revisionsprozeß durch, und in einigen Jahren sind Sie meinesgleichen.»

Das Telefon läutete. Er nahm es ab, legte wieder auf.