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Dann wieder Vergessen. Der Greis im Rollstuhl, seine Tochter, der besoffene Mörder in der Gaststube in Stüssikofen inmitten von besoffenen Bauern sanken ins Unterbewußte. Der Ärger, den Hof nicht kaufen zu können, deckte sie zu. Ich hatte den Hof nicht aus bloßer Laune zu kaufen versucht. Ich brauchte Veränderung. Zurückgekehrt, begann ich umzuorganisieren. Der Unrat, der sich während vierzig Jahren Schriftstellern angesammelt hatte, wurde ausgemistet. Haufen unerledigter Korrespondenz, nie gesehene und doch bezahlte Rechnungen, Abrechnungen, nie zur Kenntnis genommen, Berge von Korrekturen, endlos umgeschriebene Manuskripte, Fragmente, Fotos, Zeichnungen, Karikaturen, eine Heidenunordnung, die teils in Ordnung verwandelt, teils zum Verschwinden gebracht werden mußte. Berge ungelesener Manuskripte, in der Sintflut unerledigter Post seit Jahrzehnten untergegangen, wahllos schlug ich eines auf. Justiz. Fort mit dem Plunder. Beim Wegwerfen fiel mein Blick auf die erste Manuskriptseite, und ich las den Namen Dr.h.c. Isaak Kohler. Ich holte das Manuskript wieder aus dem Plastiksack. Ein Dr.H. hatte es aus Zürich geschickt, aber ich lese nie die Manuskripte, die mir zugeschickt werden. Mich interessiert Literatur nicht, ich mache selber welche. Dr.H. Ich erinnerte mich. Chur. 1957. Nach einem Vortrag. In einem Hotel. Ich ging zur Bar, um noch einen Whisky zu trinken. Außer der älteren Bardame fand ich dort noch einen Herrn, der sich mir vorstellte, kaum daß ich Platz genommen hatte. Es war Dr.H., der ehemalige Kommandant der Kantonspolizei Zürich, ein großer und schwerer Mann, altmodisch, mit einer goldenen Uhrkette quer über der Weste, wie man dies heute nur noch selten sieht. Trotz seines Alters waren seine borstigen Haare noch schwarz, der Schnurrbart buschig. Er saß an der Bar auf einem der hohen Stühle, trank Rotwein, rauchte eine Bahianos und redete die Bardame mit Vornamen an. Seine Stimme war laut, und seine Gesten waren lebhaft, ein unzimperlicher Mensch, der mich gleicherweise anzog wie abschreckte. Er nahm mich am nächsten Morgen in seinem Wagen nach Zürich mit. Ich blätterte im Manuskript. Es war in Schreibmaschinenschrift. Über dem Titel in Handschrift:»Fangen Sie damit an, was Sie wollen. «Ich begann das Manuskript zu lesen. Ich las es durch. Der Verfasser, ein Rechtsanwalt, war seinem Stoff nicht gewachsen. Die Gegenwart kam ihm dazwischen. Das Wichtigste erzählte er am Schluß, und dann fehlte ihm auf einmal die Zeit. Er überhastete sich. Im großen und ganzen eine eher dilettantische Arbeit. Auch machten mich gewisse Szenen stutzig. Etwa die Kapitelüberschriften: Ein Versuch, Ordnung in die Unordnung zu bringen. Auch gewisse Namen. Wer heißt schon Nikodemus Molch, wer Daphne Müller, wer Ilse Freude? Und wer hält sich schon eine Armee von Gartenzwergen? Hatte mir nicht der Kommandant einmal gesagt, er liebe Jean Paul? Ich konnte den Kommandanten nicht fragen. Er war gestorben. 1970. Dann las ich den Brief, den der Kommandant beigelegt hatte:»Komme von der Beerdigung Stüssi-Leupins. Nur Mock war anwesend. Aß mit ihm nachher im >Du Théâtre< Leberknödelsuppe, Tournedos Rossini mit grünen Bohnen. Nachher langes Suchen nach Mockens Hörgerät. Die Kellnerin hatte es mit der Platte hinausgetragen. Was unseren guten Gerechtigkeitsfanatiker betrifft, so war es ihm doch gelungen, sich in den Flughafen einzuschleichen. In der Putzmannschaft. Und geschossen hat er auch und fiel vor Schreck, daß der Schuß losging, kopfüber in den Putzkübel, zum Glück'hat Kohler nichts bemerkt, da gerade ein viermotoriges Flugzeug startete. Schaden hätte der Attentäter ohnehin nicht anrichten können. Er hatte sich getäuscht. Ich bin doch auf den Trödler näher eingegangen. Die Patronen im Alphorn waren sorgfältig präparierte Platzpatronen. Wußte nachher nicht, was ich mit dem Gerechtigkeitsfanatiker anfangen sollte. Er war am Ende. Der Justiz übergeben mochte ich ihn nicht. Stüssi-Leupin (siehe oben) nahm sich seiner an. Verschaffte ihm eine Stelle. Sind nun einige Jahre her. Ihr Dr.H., Exkommandant. «Ich telefonierte nach Stüssikofen. Der Leuenbergerwirt meldete sich. Ich verlangte den Fürsprecher. Tot. Letzte Woche» verräblet«. Wie er geheißen habe? Geheißen? Fürsprecher. Wo er beerdigt sei? Denk in Flötigen. Ich fuhr hin. Der Friedhof lag außerhalb des Dorfes. Von einer Steinmauer eingefaßt. Ein schmiedeeisernes Eingangstor. Es war kalt. Das erste Mal im Jahr, daß ich den Winter ahnte. Friedhöfe haben für mich etwas Vertrautes. Ich spielte als Kind in einem Friedhof. Er war individuell. Jeder Tote hatte sein eigenes Grab, Grabsteine, schmiedeeiserne Kreuze, Sockel, Säulen, sogar ein Engel war zu sehen. Auf dem Grab von einem Christeli Moser. Aber der Friedhof von Flötigen war ein moderner Friedhof, ein vom Gemeinderat von Flötigen vor zehn Jahren beschlossener Friedhof. Was vor zehn Jahren gestorben war, war nicht mehr vorhanden. Da der Friedhof begrenzt war und nicht mehr erweitert werden konnte — die Bodenpreise waren zu hoch —, wurde nur zehnjähriges Liegen in der Heimaterde gestattet. Dann ab in die Ewigkeit. Doch in diesen zehn Jahren mußte man strammliegen. Jedem sein gleiches Grab. Seine gleichen Blumen. Sein gleicher Grabstein. Mit der gleichen Schrift beschriftet. So lagen die Toten in Reih und Glied, sogar der, den ich suchte. Unordentlich im Leben, ordentlich als Leiche. Der letzte neben einem noch leeren Grab. Der Grabstein und die Blumen (Astern, Chrysanthemen) waren schon gesetzt. Auf dem Grabstein:

FELIX SPÄT, FÜRSPRECHER, 1930–1984.

Zu Hause las ich noch einmal das Manuskript durch. Es mußte vom Urmanuskript abgetippt worden sein. Trotz der Dichtereien, die durch den Kommandanten hineingeraten sein mochten, war es am authentischsten. Was Späts Erzählung betrifft, rühmte er sich in Stüssikofen eines Mordes, den er nicht begangen hatte, und Kohler unterschob in München seinen Mord jenem, den er mit dem Ermordeten beseitigen wollte. Ich ließ das Manuskript fotokopieren. Die Adresse des Dr.h.c. Isaak Kohler fand ich im Telefonbuch. Ich schickte ihm die Kopie. Einige Tage später erhielt ich einen Brief von Hélène Kohler. Sie bat mich, sie zu besuchen. Der Zustand ihres Vaters lasse ihre Abwesenheit nicht zu. Ich telefonierte. Anderntags betrat ich den Kohlerschen Besitz.