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«Kehren wir zu Spät zurück«, sagte ich, wenn es ihr nichts ausmache. Es mache ihr nichts aus, sagte sie, sie hätte gehofft, als Spät den Auftrag ihres Vaters angenommen hatte, er würde dahinterkommen. Hinter was? Dahinter, wer ihren Vater zum Mord angestiftet habe, sie. Nicht sehr logisch, sagte ich. Warum? antwortete sie, sie hätte ihren Vater angestiftet. Sie hätte wählen können. Sie drehe sich im Kreis herum, stellte ich fest, zuerst habe sie ihrem Vater alle Schuld zugewiesen, jetzt sich. Sie seien beide schuldig, antwortete sie. Das sei reichlich verrückt, sagte ich. Sie sei verrückt, entgegnete sie. Weiter, befahl ich. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Als nach dem Freispruch ihres Vaters, nachdem er abgereist sei, Spät sie angepöbelt habe und beinah auf die Wahrheit gestoßen sei, sei sie zum Kommandanten gegangen und habe ihm alles gestanden. Was das heiße, fragte ich. Gestanden, alles habe sie gestanden, wiederholte sie. Und? fragte ich. Sie schwieg. Dann sagte sie, der Kommandant habe auch nur gefragt, und? Dann habe er sich eine Zigarre angezündet und gesagt, alter Schnee. Benno habe sich das Leben genommen, nachträglich festzustellen, wer nun geschossen habe, oder gar die Themse nach dem Revolver abzusuchen, unmöglich, es gebe Fälle, wo die Justiz ihren Sinn verloren habe, zur bloßen Farce werde. Sie solle wieder gehen, er vergesse, was sie ihm erzählt habe. Warum ihr Vater Spät nicht einmal erwähnt habe, fragte ich. Er habe ihn vergessen. Stüssi-Leupin auch, sagte ich. Es sei merkwürdig, antwortete sie, ihr Vater bilde sich ein, Benno, nicht er, habe den Mord begangen. Sie sei die einzige, die noch wisse, daß ihr Vater der Mörder gewesen sei. Ob sie denn das genau wisse, fragte ich, es sei zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber vielleicht sei es doch Benno gewesen. Sie schüttelte den Kopf. Es sei ihr Vater gewesen. Sie habe den Revolver untersucht, den sie der Manteltasche des Ministers entnommen und zu Hause selber geladen habe.

Warum sie mir das alles erzähle, fragte ich. Sie schaute mich erstaunt an. Wozu in aller Welt ich ihr das Manuskript denn zugeschickt habe? Nur um hinter die Wahrheit zu kommen? Ich sei vor allem ein Schriftsteller, der nicht an der Wahrheit der anderen, sondern an seiner eigenen interessiert sei, mir gehe es darum, einen Roman zu schreiben, und um nichts anderes, und erscheine einmal das Buch, so werde es unter meinem Namen erscheinen, nicht unter jenem Späts. Ob das Manuskript von Spät sei oder von mir, wisse nur ich, ich behaupte, es vom Kommandanten bekommen zu haben. Sie habe den alten Schwafler auch gekannt, er sei oft bei ihrem Vater und ihr zu Gast gewesen und habe aus der Schule geplaudert. Das könne er auch bei mir getan haben. Aber wenn ich sie schon benutze, so solle ich sie nicht wie ein goethisches Frauenzimmer beschreiben, die man samt und sonders verprügeln sollte, so langweilig seien sie, außer Philine, der einzigen von seinen Geschöpfen, mit welcher der alte Herr gern geschlafen hätte. Dann blickte sie starr vor sich hin. Vor dem Fenster ging pfeifend der Gärtnerjunge vorbei. Ob ich hinausfinde? Ich verabschiedete mich. In seinem Arbeitszimmer spielte der Alte immer noch Billard. A la bande.

Vier vor zwei. Ich trete vor mein Arbeitszimmer. Als ich es anlegen ließ, sah ich von ihm aus den See. Nun versperren Bäume die Sicht. Einige von ihnen mußte ich schon fällen, die noch nicht waren, als ich hierher zog. Es ist traurig, Bäume fällen zu müssen, man mordet sie. Die Eiche ist mächtig geworden. An den Bäumen spüre ich die Zeit, meine Zeit. Anders als ich sie am Himmel erspähe. Mit einem gewissen Bedauern sehe ich schon die Plejaden, Aldebaran, Kapella, Wintersterne, und doch ist es noch Sommer, ein Anzeichen, in einem Drittel eines Jahres ein Jahr älter geworden zu sein. Am Himmel spult sich die objektive Zeit ab, die meßbare Zeit eines bald Fünfundsechzigjährigen, mit den Bäumen wächst sie mit mir subjektiv dem Tod entgegen, nicht mehr meßbar, nur noch spürbar. Aber wie empfindet die Erde die Zeit? Ich schaue auf den nächtlichen See, er hat sich nicht verändert, sieht man von dem ab, was ihm die Menschen antaten. Doch wie alt empfindet sich die Erde? Objektiv? Uralt? Viereinhalb Milliarden Jahre alt? Oder fühlt sie sich subjektiv im besten Alter, da es noch sieben Milliarden Jahre dauern könnte, bis sie von der Sonne verglüht wird? Oder fühlt sie die Zeit in Blitzgeschwindigkeit, fühlt sie sich als ungeduldige ungestüme Kraft, kocht sie sich zusammen, sprengt sie Kontinente auseinander, stemmt Gebirge hoch, schiebt Schichten übereinander, schwemmt Meere übers Land, ist unser Wandel über einen sicheren Boden in Wirklichkeit ein Gehen über einen schwankenden Boden, der sich jederzeit zu öffnen und uns zu verschlingen vermag? Und wie ist es mit der Zeit der Menschheit beschaffen? Wir haben sie so objektiv wie möglich gemessen und eingeteilt in Altertum, Mittelalter, Neuzeit und Neueste Zeit, eine noch neuere erwartend, ja, es gibt noch delikatere Einteilungen, wie etwa die, daß auf das Vermächtnis des Ostens das Zeitalter der Griechen folgt, daß sich daran Cäsar und Christus schließen, gefolgt vom Zeitalter des Glaubens, fröhlich läutet die Renaissance das Zeitalter der Reformation ein, und dann ist das Zeitalter, in welchem die Vernunft anhebt, nicht aufzuhalten, sie hebt sich bis heute an, sie hebt und hebt, seien wir nicht kleinlich, der Erste und der Zweite Weltkrieg und Auschwitz waren Episoden, Chaplin ist bekannter als Hitler, an Stalin glauben nur noch die Albaner und an Mao einige peruanische Terroristen, vierzig Jahre Frieden, das zählt, nicht überall, zugegeben, eigentlich nur zwischen den Supermächten und in Europa, im Pazifik im großen und ganzen und in Japan, reingewaschen von jeder Schuld durch Hiroschima und Nagasaki, und selbst China öffnet sich den Verkehrsbüros. Doch wie erlebt dieser Friede, wo er überhaupt Zeit hat, sich so zu nennen, seine Zeit? Bleibt sie ihm stehen, und wenn, weiß er mit ihr etwas anzufangen? Läuft sie ihm davon? Braust sie gar wie ein Sturmwind über ihn hin, als Tornado, die Autos ineinanderschmeißend, Züge von den Schienen fegend, Jumbo-Jets an Berge schmetternd, Städte niederbrennend? Wie rollt sich die Zeit unseres vierzigjährigen meßbaren Friedens objektiv ab, die Zeit, in der ein wirklicher Krieg, auf den hin man sich rüstet, immer undenkbarer scheint und doch bedacht wird? Hat unsere Friedenszeit, die zu erhalten Millionen demonstrieren, Transparente tragen, Pop singen und beten, nicht schon längst die Form dessen angenommen, das wir einst Krieg genannt haben, indem wir die Katastrophen, uns zu besänftigen, in unseren Frieden einbauen? Die Weltgeschichte gaukelt der Menschheit endlose Zeit vor, vielleicht ist sie für die Erde objektiv gemessen nur eine kurze Episode, nicht einmal das, ein Zwischenfall innerhalb einer Erdsekunde, kosmisch kaum mehr feststellbar, kaum eine schwer zu deutende Schramme hinterlassend. Die Dorer glaubten, sie seien, kaum dem Boden entsprossen, noch im Lehm steckend, über sich hergefallen: So fallen wir in Wirklichkeit über uns her, ob im Frieden oder im Krieg, kaum der Eiszeit entronnen, Männer über Frauen, Frauen über Männer, Männer über Männer, Frauen über Frauen, nicht von der Vernunft gelenkt, sondern vom Instinkt, Millionenjahre länger entwickelt als jene, undurchschaubar in seinen Motiven. So halten wir uns, indem wir mit Atom-, Wasserstoff-, Neutronenbomben drohen, das Schlimmste vom Leibe, wie Gorillas auf unsere Brüste trommelnd, die anderen Gorillahorden abzuschrecken, während wir Gefahr laufen, am Frieden einzugehen, den wir bewahren wollen, im Verrecken bedeckt von den Zweigen der gestorbenen Wälder. Müde kehre ich zu meinem Schreibtisch zurück. Zu meinem Schlachtfeld, in den Bannkreis meiner Geschöpfe, aber nicht in eine andere Wirklichkeit, außer jener, daß ihre Zeit abgelaufen ist, nicht die unsrige. Von mir erfunden, vermochte ich sie nicht zu enträtseln. Meine Geschöpfe erschufen sich ihre Wirklichkeit, die sie meiner Einbildungskraft entrissen und damit meiner Wirklichkeit, der Zeit, die ich hergab, sie zu schaffen. So sind auch sie ein Teil unser aller Wirklichkeit geworden und damit eine der Möglichkeiten, deren eine wir die Weltgeschichte nennen, auch sie eingepuppt vom Kokon unserer Fiktionen. Doch ist die Geschichte, die nur in meiner Phantasie wirklich wurde und die nun, geschrieben, von mir weicht, sinnloser als die Weltgeschichte, weniger erdbebensicher als der Boden, auf dem wir unsere Städte bauen? Und Gott? Denken wir ihn, hat er anders gehandelt als Dr.h.c. Isaak Kohler? Hatte Spät nicht die Freiheit, den Auftrag abzuweisen, einen Mörder zu suchen, den es nicht gab? Mußte er denn nicht einen Mörder finden, den es nicht gab, so wie der Mensch, als er die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und des Bösen aß, den Gott finden mußte, den es nicht gab, den Teufel? Ist dieser nicht die Fiktion Gottes, um seine mißratene Schöpfung zu rechtfertigen? Wer ist der Schuldige? Jener, der den Auftrag gibt, oder jener, der ihn annimmt? Jener, der verbietet, oder jener, der das Verbot mißachtet? Jener, der die Gesetze erläßt, oder jener, der sie bricht? Jener, der die Freiheit zuläßt, oder jener, der sie wahrnimmt? Wir gehen an der Freiheit zugrunde, die wir gestatten und die wir uns gestatten. Ich verlasse mein Arbeitszimmer, das nun leer geworden ist, befreit von meinen Geschöpfen. Halb fünf. Am Himmel seh ich zum ersten Mal den Orion. Wen jagt er?