Kurze Zeit später setzte sie sich wieder mit Erlendur in Verbindung, und seitdem hatten sie sich einige Male getroffen. Einmal war sie sogar zu ihm nach Hause gekommen. Er hatte nach besten Kräften versucht, aufzuräumen, zu spülen, die Zeitungen zu entsorgen und Bücher zurück in die Regale zu stellen. Er bekam äußerst selten Besuch und sträubte sich lange dagegen, dass Valgerður zu ihm nach Hause kam. Sie ließ aber nicht locker, weil sie wissen wollte, wie er lebte. Laut Eva Lind war seine Wohnung in diesem Wohnblock in Breiðholt eine Bude, in die er kroch, um sich zu verstecken.
»All diese Bücher«, sagte Valgerður, als sie schließlich neben ihm im Wohnzimmer stand. »Hast du das alles gelesen?«
»Das meiste«, sagte Erlendur. »Möchtest du einen Kaffee? Ich habe Teilchen dazu gekauft.«
Sie ging zu den Bücherschränken hin und strich mit dem Finger über die Buchrücken, versuchte, sie zu entziffern und nahm das eine oder andere Buch aus dem Regal.
»Sind das hier die über Bergnot und Katastrophen in Eis und Schnee?«, fragte sie.
Sie hatte bald herausgefunden, dass Erlendur ein ganz spezielles Interesse an verschollenen Personen hatte und mit Vorliebe Literatur darüber las, wie Menschen spurlos verschwanden. Und über tragische Todesfälle in Eis und Schnee.
Er hatte ihr erzählt, was er bisher nur Eva Lind und niemand anders anvertraut hatte: dass sein Bruder im Alter von acht Jahren bei einem Schneesturm in den Bergen umgekommen war. Erlendur war damals zehn Jahre alt.
Sie waren zu dritt gewesen, die beiden Jungen mit ihrem Vater. Nur Erlendur und sein Vater kehrten lebend wieder zurück, sein Bruder verirrte sich im Schneesturm und fand den Tod. Er war nie gefunden worden.
»Du hast mir gesagt, dass in einem von diesen Büchern etwas über dich und deinen Bruder steht«, sagte Valgerður.
»Ja«, antwortete Erlendur.
»Zeigst du mir eventuell das Buch?«
»Das mache ich ein anderes Mal«, sagte Erlendur. »Nicht jetzt. Ich zeige dir das Buch später.«
Als er das Lokal betrat, stand Valgerður auf, und wie immer gaben sie sich zur Begrüßung die Hand. Erlendur wusste eigentlich nicht, was für eine Beziehung das war, aber es war eine, und er fühlte sich wohl dabei. Obwohl sie sich jetzt schon bald ein halbes Jahr regelmäßig trafen, hatten sie nicht miteinander geschlafen. Ihre Beziehung drehte sich also zumindest nicht um Sex. Sie saßen lange zusammen und unterhielten sich über all die Dinge, die ihr Leben betrafen.
»Warum hast du ihn noch nicht verlassen?«, fragte er nach dem Essen, als sie Kaffee und Likör bestellt hatten und nachdem sie sich die ganze Zeit über Eva Lind und Sindri, über ihre Söhne und die Arbeit unterhalten hatten. Sie fragte ihn nach dem Skelett im Kleifarvatn, aber er konnte wenig dazu sagen, nur dass sie jetzt alte Fälle aufrollten von Personen, die Anfang der siebziger Jahre spurlos verschwunden waren.
Kurz bevor sie sich kennen lernten, hatte Valgerður erfahren, dass ihr Mann bereits seit zwei Jahren eine Affäre mit einer anderen hatte, und auch vorher war er bereits einmal fremdgegangen, aber nicht so »ernsthaft«, wie er sich ausdrückte. Als sie sich entschlossen zeigte, ihn zu verlassen, beendete er dieses Verhältnis sofort, und seitdem war nichts weiter geschehen.
»Valgerður …?«, hakte Erlendur nach.
»Du hast Eva Lind in dem Therapiecenter getroffen«, beeilte sie sich zu sagen, als ahnte sie, was als Nächstes kommen würde.
»Ja, ich habe sie getroffen.«
»Hat sie sich daran erinnert, wie sie festgenommen wurde?«
»Nein, ich glaube nicht, dass sie sich daran erinnert. Wir haben auch nicht darüber gesprochen.«
»Das arme Mädchen.«
»Wirst du bei ihm bleiben?«, fragte Erlendur.
Valgerður nippte an ihrem Likör.
»Es ist so schwierig«, sagte sie.
»Tatsächlich?«
»Ich bin irgendwie noch nicht bereit, dem ein Ende zu setzen«, sagte sie und blickte Erlendur in die Augen, »aber ich will dich auch nicht verlieren.«
Als Erlendur abends nach Hause kam, lag Sindri Snær auf dem Sofa und rauchte, während der Fernseher lief. Er nickte seinem Vater zu und starrte weiter auf den Apparat.
Erlendur sah aus den Augenwinkeln, dass er sich Zeichentrickfilme ansah. Da Erlendur seinem Sohn einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben hatte, musste er jederzeit mit ihm rechnen, auch wenn er ihm nicht erlaubt hatte, sich bei ihm einzuquartieren.
»Kannst du das nicht ausmachen?«, fragte er, während er sich den Mantel auszog.
Sindri stand auf und schaltete den Fernseher aus.
»Ich hab keine Fernbedienung gefunden«, sagte er. »Ist das Teil nicht reichlich antik?«
»Nein«, sagte Erlendur. »Höchstens zwanzig Jahre oder so.
Ich sehe nicht viel fern.«
»Eva hat mich heute angerufen«, sagte Sindri und drückte die Zigarette aus. »War das einer von deinen Kollegen, der sie festgenommen hat?«
»Sigurður Óli heißt er. Sie ist mit einem Hammer auf ihn losgegangen. Sie wollte ihn niederstrecken, hat ihn aber nur an der Schulter getroffen. Er hatte vor, sie wegen Körperverletzung und Behinderung der Polizei anzuzeigen.«
»Du hast einen Deal gemacht, falls sie stattdessen bereit wäre, eine Therapie zu machen.«
»Sie hat sich nie einer Therapie unterziehen wollen. Sigurður Óli hat mir diesen Gefallen getan und keine Anzeige erstattet.«
Eddi. Er war ein Dealer, der im Zusammenhang mit einem Drogenfall gesucht wurde, und Sigurður Óli, zusammen mit zwei anderen Kriminalbeamten, hatte ihn in seiner Bude in der Nähe von Hlemmur ausfindig gemacht, nicht weit vom Hauptdezernat. Ein Bekannter von Eddi hatte der Polizei einen Tipp gegeben. Widerstand wurde ihnen nur von Eva Lind entgegengebracht. Sie war völlig ausgeklinkt.
Eddi lag halbnackt auf dem Sofa und rührte sich nicht. Ein anderes Mädchen, jünger als Eva Lind, lag ganz nackt neben ihm. Eva war außer sich vor Wut, als sie die Kriminalpolizisten sah. Sie kannte Sigurður Óli, weil er mit ihrem Vater zusammenarbeitete. Sie schnappte sich einen Hammer, der auf dem Boden lag, und ging mit ihm auf Sigurður Óli los, den sie mit einem Schlag an den Kopf zu Boden strecken wollte. Sie traf ihn aber nur an der Schulter, und das Schlüsselbein brach. Sigurður Óli ging in die Knie, weil der Schmerz unerträglich war. Als sie zu einem weiteren Schlag ausholte, sprangen die beiden anderen Polizisten hinzu und konnten Eva überwältigen.
Sigurður Óli sprach nie darüber, aber von den beiden anderen Beamten erfuhr Erlendur, dass er einen Moment gezögert hatte, als er sah, dass Eva Lind auf ihn losging. Er zögerte, Erlendurs Tochter etwas anzutun. Deswegen hatte sie überhaupt zum Schlag ausholen können.
»Ich habe gedacht, sie würde sich am Riemen reißen, nachdem sie das Kind verloren hat«, sagte Erlendur. »Aber sie benimmt sich schlimmer als je zuvor. Jetzt hat es ganz den Anschein, als ob ihr überhaupt nichts mehr wichtig wäre.«
»Ich würde sie gern besuchen«, sagte Sindri, »aber Besuche sind nicht gestattet.«
»Ich kann mit den Leuten reden.«
Das Telefon klingelte, und Erlendur streckte seine Hand danach aus.
»Erlendur?«, sagte eine kraftlose Stimme, die Erlendur sofort erkannte.
»Marian?«
»Was habt ihr da im Kleifarvatn gefunden?«, fragte Marian Briem.
»Knochen«, sagte Erlendur. »Nichts, worüber du dir den Kopf zu zerbrechen brauchst.«
»Ach so.« Marian Briem war pensioniert, tat sich aber schwer damit, sich von Erlendur und all den interessanten Fällen, in denen er ermittelte, fern zu halten.
Langes Schweigen.
»Ist was Besonderes?«, fragte Erlendur schließlich.