»Am 10. September 1973 klingelte bei der Polizei in Hafnarfjörður das Telefon. Zwei Froschmänner aus Reykjavik — so hat man früher die Taucher genannt«, sagte Marian Briem und grinste trotz der Schmerzen, »fanden bei einem Trainingstauchen im Kleifarvatn ganz durch Zufall eine Menge Apparate im See, die in zehn Meter Tiefe lagen. Es stellte sich heraus, dass die meisten russischer Herkunft waren, obwohl man versucht hatte, die russische Schrift abzuschleifen. Techniker vom Telefonamt wurden hinzugezogen, um die Apparate zu untersuchen, und kamen zu dem Ergebnis, dass es russische Funk- und Abhörgeräte waren. Es waren sehr viele Apparate«, sagte Marian Briem. »Aufnahmegeräte, Radioapparate, Abhörsender.«
»Hast du damals den Fall bearbeitet?«
»Ich war am See, als die Apparate aus dem Wasser gezogen wurden, aber ich war nicht mit der Leitung der Ermittlung beauftragt. Die Sache hat damals ungeheures Aufsehen erregt. Der Kalte Krieg war in vollem Gange, und die russische Spionagetätigkeit hierzulande war eine Tatsache. Die Amerikaner haben selbstredend auch spioniert, aber sie waren die befreundete Nation. Der Russe war der Feind.«
»Sendegeräte?«
»Ja. Und Abhöranlagen. Es stellte sich heraus, dass einige von ihnen auf die Frequenz der amerikanischen Basis eingestellt waren.«
»Du willst also das Skelett mit diesen Apparaten in Verbindung bringen?«
»Was glaubst du wohl?«, sagte Marian Briem und schloss die Augen.
»Das klingt nicht unwahrscheinlich.«
»Behalte es im Hinterkopf«, sagte Marian Briem, und das Gesicht verzerrte sich vor Erschöpfung.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Erlendur. »Kann ich dir vielleicht etwas besorgen?«
»Ich leih mir manchmal Western aus«, erklärte Marian nach längerem Schweigen und saß immer noch mit geschlossenen Augen da.
Erlendur war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte.
»Western?«, fragte er. »Meinst du Cowboyfilme?«
»Kannst du mir einen richtig guten Western besorgen?«
»Was ist ein guter Western?«
»John Wayne«, sagte Marian, und seine Stimme wurde noch schwächer.
Erlendur blieb noch eine Weile sitzen, falls Marian wieder aufwachen würde. Es war später Vormittag. Er ging in die Küche, kochte Kaffee und füllte zwei Tassen damit. Er erinnerte sich, dass Marian den Kaffee schwarz und ohne Zucker trank, genau wie er selber. Er stellte die Tasse neben den Sessel, in dem Marian saß. Er wusste nicht, was er sonst tun konnte.
Western!, dachte er bei sich, als er das Haus verließ.
Nicht zu fassen, sagte er zu sich selbst, als er losfuhr.
Am späten Nachmittag setzte sich Sigurður Óli zu Erlendur ins Büro. Der Mann hatte wieder mitten in der Nacht angerufen und gesagt, er würde Selbstmord begehen. Sigurður Óli hatte einen Streifenwagen zu seinem Haus geschickt, die Polizisten fanden aber niemanden vor. Der Mann lebte allein in einem kleinen Einfamilienhaus. Die Polizei verschaffte sich Zutritt, aber das Haus war leer.
»Und dann hat er heute Morgen schon wieder angerufen«, sagte Sigurður Óli, nachdem er die Geschichte erzählt hatte. »Da war er wieder zu Hause. Passiert ist gar nichts.
Dieser Mann geht mir langsam, aber sicher auf den Geist.«
»Ist das der, der seine Frau und sein Kind verloren hat?«
»Ja. Aus unerfindlichen Gründen gibt er sich selber die Schuld daran und verschließt sich völlig vernünftigen Argumenten.«
»Es war doch purer Zufall, oder?«
»Nein, in seinen Augen nicht.«
Sigurður Óli hatte eine Zeit lang in der Sektion für Unfallanalyse gearbeitet. Ein großer Jeep war an einer Kreuzung in Breiðholt einem kleinen Pkw in die Seite gefahren, mit der Folge, dass eine Mutter und ihre fünfjährige Tochter den Tod fanden. Der Fahrer des Jeeps stand unter Alkohol und war bei Rot über die Ampel gefahren. Das Auto, in dem sich Mutter und Tochter befanden, war das letzte in einer langen Reihe, das die Kreuzung überquerte. Genau in dem Augenblick überfuhr der Jeep in rasantem Tempo die rote Ampel. Wenn die Mutter abgewartet hätte und erst bei der nächsten Grünphase losgefahren wäre, hätte der Jeep keinen Schaden anrichten können, sondern einfach die Kreuzung überquert und wäre weitergerast. Wahrscheinlich hätte der betrunkene Fahrer dann irgendwo anders einen Unfall verursacht, aber auf jeden Fall nicht an dieser Kreuzung.
»Aber so passieren doch die meisten Unfälle«, sagte Sigurður Óli zu Erlendur. »Gemeine Zufälle. Und das begreift er nicht, dieser Mann.«
»Sein Gewissen peinigt ihn«, sagte Erlendur. »Versuch doch, ihm mehr Verständnis entgegenzubringen.«
»Verständnis?! Er ruft mitten in der Nacht bei mir zu Hause an. Kann man mehr Verständnis zeigen, als das über sich ergehen zu lassen?«
Die Frau war im Einkaufszentrum Smáralind gewesen. Sie hatte schon an der Kasse im Supermarkt gestanden, als er sie auf ihrem Handy anrief und sie bat, noch eine Schachtel Erdbeeren mitzubringen. Das machte sie, aber dadurch vergingen einige weitere Minuten, bis sie losfuhr. Der Mann war überzeugt, dass sie nicht in dem entscheidenden Augenblick an der Kreuzung gewesen wäre, wenn er sie nicht angerufen hätte, und folglich wäre der Jeep dann nicht in ihr Auto gerast. Deswegen gab er sich selbst die Schuld an dem, was passiert war. Der Unfall war deswegen passiert, weil er angerufen hatte.
Am Unfallort sah es grauenvoll aus. Das Auto der Frau war völlig zusammengedrückt worden. Der Jeep war nach dem Zusammenprall von der Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Der Fahrer des Jeeps hatte Kopfverletzungen und diverse Knochenbrüche davongetragen. Er war bewusstlos, als man ihn im Krankenwagen abtransportierte. Mutter und Tochter waren auf der Stelle tot gewesen. Sie mussten mit Schneidbrennern aus dem Wrack herausgeholt werden. Blut strömte über die Straße.
Wie in solchen Fällen üblich, machte sich Sigurður Óli zusammen mit einem Pfarrer auf den Weg, um die Nachricht zu überbringen. Das Auto war auf den Namen des Mannes registriert gewesen. Er hatte angefangen, sich Sorgen zu machen, weil seine Frau und die Tochter so lange ausblieben, und er schrak zusammen, als Sigurður Óli und der Pastor vor seiner Tür standen. Als sie ihm mitgeteilt hatten, was passiert war, erlitt er einen Nervenzusammenbruch.
Ein Arzt musste geholt werden. Seitdem rief der Mann in regelmäßigen Abständen bei Sigurður Óli an, der völlig gegen seinen Willen zu so etwas wie einem Vertrauten für ihn geworden war.
»Ich will so ein Heckmeck nicht«, stöhnte Sigurður Óli, »aber er lässt nicht locker, sondern ruft mitten in der Nacht an und lässt sich darüber aus, dass er sich umbringen will! Warum hat er sich nicht an diesen Pfaffen gehängt?«
»Heckmeck?«, fragte Erlendur.
»Ich will ihn nicht darin bestätigen, was er sagt und tut«, sagte Sigurður Óli. »Verstehst du kein Isländisch?«
»Sag ihm, er soll sich an einen Psychiater wenden.«
»Er ist in Behandlung bei einem.«
»Man kann sich natürlich nicht wirklich in seine Situation versetzen«, sagte Erlendur. »Aber er muss sich einfach entsetzlich fühlen.«
»Ja«, sagte Sigurður Óli.
»Und er spielt mit Selbstmordgedanken?«
»Davon redet er immer. Er ist bestimmt imstande, etwas Verrücktes zu tun. Ich habe bloß keine Lust, da mit drinzuhängen. Ich hab einfach keine Lust!«
»Was sagt Bergþóra dazu?«
»Sie glaubt, dass ich ihm irgendwie helfen könnte.«
»Erdbeeren?«
»Ich weiß. Das sag ich ihm doch die ganze Zeit. Das ist völlig absurd.«
Neun
Erlendur hörte sich eine weitere Schilderung von dem spurlosen Verschwinden eines Menschen in den sechziger Jahren an. Sigurður Óli war mit dabei. Diesmal ging es um einen Mann Ende dreißig.
Eine erste Analyse der Knochen hatte ergeben, dass der Mann im Kleifarvatn etwa 35 bis 40 Jahre alt gewesen war.