Das Alter des russischen Geräts bot den Anhaltspunkt dafür, dass er irgendwann nach 1961 im See versenkt worden war. Man hatte den schwarzen Kasten, der unter dem Skelett gefunden worden war, gründlich untersucht. Es handelte sich um einen Abhörsender, der damals über Kurzwelle betrieben wurde und die Frequenzen abhören konnte, die in den sechziger Jahren von der NATO verwendet worden waren. Das Produktionsjahr war 1961, die Zahlen waren sehr schlampig abgefeilt worden, und die Beschriftung, soweit man sie noch erkennen konnte, war zweifelsohne russisch.
Erlendur hatte sich mit den Zeitungsartikeln befasst, die 1973 erschienen waren, nachdem man die russischen Apparate im Kleifarvatn gefunden hatte. Das meiste von dem, was Marian Briem ihm erzählt hatte, stimmte mit den Zeitungsberichten überein. Die Apparate waren in einer Tiefe von zehn Metern unweit der Geithöfði-Klippe gefunden worden, und das war ein ganzes Stück vom Fundort des Skeletts entfernt. Sigurður Óli und Elínborg wussten nichts von diesem alten Vorfall. Nachdem Erlendur sie darüber in Kenntnis gesetzt hatte, diskutierten sie, ob er in einem Zusammenhang mit dem Skelett im See stehen konnte. Für Elínborg schien das auf der Hand zu liegen. Falls die Polizei damals in weiterem Umkreis gesucht hätte, wäre man womöglich auf die Leiche gestoßen.
Den Polizeiprotokollen von damals zufolge hatten die Taucher ausgesagt, dass ihnen eine Woche zuvor, als sie ebenfalls dort Tauchübungen gemacht hatten, auf dem Weg zum Kleifarvatn eine schwarze Limousine entgegengekommen sei. Sie hatten den Eindruck, es hätte sich dabei um irgendeinen Botschaftswagen gehandelt. Die sowjetische Botschaft verweigerte jegliche Auskunft in dieser Angelegenheit, und dasselbe galt für sämtliche anderen osteuropäischen Vertretungen in Reykjavik. Erlendur fand einen kurzen Bericht, in dem festgestellt wurde, dass die Apparate russischer Herkunft waren. Es waren einige Abhörgeräte mit einer Reichweite von etwa 160 Kilometern darunter, die aller Wahrscheinlichkeit nach dazu verwendet worden waren, Telefongespräche im Raum Reykjavik und Keflavík abzuhören. Es wurde für wahrscheinlich erachtet, dass die Apparate aus den frühen sechziger Jahren stammten, vorsintflutliche Geräte mit Kondensatoren, die vor langer Zeit von moderneren Transistorgeräten abgelöst worden waren. Die Apparate waren batteriebetrieben gewesen und fanden in einer normalen Reisetasche Platz.
Die Frau, die ihnen gegenübersaß, ging auf die siebzig zu, wirkte aber jünger. Sie hatten keine Kinder gehabt, als der Mann, mit dem sie zusammenlebte, urplötzlich von der Bildfläche verschwand. Sie waren nicht verheiratet gewesen, hatten aber seinerzeit in Erwägung gezogen, zum Standesamt zu gehen. Sie war seitdem keine neue Beziehung zu einem Mann eingegangen, erklärte sie schüchtern, und in ihrer Stimme schwang Trauer mit.
»Er war so ein lieber Mensch«, sagte die Frau. »Ich ging immer davon aus, dass er zurückkehren würde. Es war besser, an diese Möglichkeit zu glauben, als daran, dass er tot war. Damit konnte ich mich nicht abfinden. Und ich habe mich nie damit abgefunden.«
Die beiden hatten sich eine kleine Wohnung gekauft und freuten sich darauf, Kinder zu bekommen. Sie arbeitete damals in einem Milchgeschäft; das war 1968 gewesen.
»Du kannst dich doch daran erinnern«, sagte sie zu Erlendur. »Und du vielleicht auch«, fügte sie hinzu und sah Sigurður Óli an. »Damals gab es spezielle Milchgeschäfte, wo nur Milch und Quark und so etwas verkauft wurde. Ausschließlich Milchprodukte.«
Erlendur nickte bedächtig und verständnisvoll, aber Sigurður Óli machte schon wieder einen ungeduldigen Eindruck.
Der Mann wollte sie wie jeden Tag von der Arbeit abholen, aber sie stand lange Zeit vor dem Geschäft und wartete.
»Inzwischen sind mehr als dreißig Jahre vergangen«, sagte sie, während sie Erlendur anschaute, »und ich habe das Gefühl, als stünde ich immer noch vor dem Milchladen und wartete auf ihn. Die ganzen Jahre. Er war immer pünktlich, und ich kann mich erinnern, dass ich mir schon nach zehn Minuten Sorgen machte, warum er sich so verspätete, und dann vergingen eine Viertelstunde und eine weitere halbe Stunde. Ich weiß noch ganz genau, wie unendlich lang mir die Zeit vorkam. Es war, als hätte er mich vergessen.« Sie seufzte.
»Und später war es dann, als hätte er nie existiert.« Sie hatten die Protokolle gelesen. Die Frau hatte das Verschwinden des Mannes gleich am nächsten Morgen gemeldet. Die Polizei war zu ihr nach Hause gekommen.
Eine Suchmeldung ging durch Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Die Polizei nahm an, dass er bald gefunden werden würde. Sie wurde danach gefragt, ob er Alkoholprobleme gehabt hätte oder ob er sich schon früher einmal auf diese Art und Weise abgesetzt hatte, und ob es womöglich eine andere Frau in seinem Leben gäbe. Sie verneinte das alles, aber diese Fragen führten dazu, dass sie in ganz anderer Weise über den Mann nachdachte als zuvor. Gab es eine andere Frau? Hatte er sie wegen einer anderen Frau verlassen? Er war Handelsreisender und kam im ganzen Land herum. Er verkaufte diverse Landwirtschafts- und Baumaschinen, Traktoren, Heubläser, Bagger und Planierraupen, deswegen war er viel unterwegs. Manchmal sogar wochenlang. Er war gerade erst von einer solchen Reise zurückgekehrt, bevor er spurlos verschwand.
»Ich weiß nicht, was er da oben am Kleifarvatn zu tun gehabt haben sollte«, sagte sie und blickte vom einen zum anderen. »Da sind wir nie gewesen.«
Sie hatten ihr weder von dem russischen Apparat erzählt noch von dem Loch im Schädel, sondern nur, dass sie dort, wo früher der See gewesen war, ein Skelett gefunden hatten und dass sie infolgedessen jetzt die nicht aufgeklärten Vermisstenmeldungen eines bestimmten Zeitraums überprüften.
»Euer Auto wurde zwei Tage später vor dem Busbahnhof aufgefunden«, sagte Sigurður Óli.
»Niemand hat meinen Mann dort nach den Beschreibungen wiedererkannt«, sagte die Frau. »Ich hatte kein Foto von ihm. Und er auch nicht von mir. Wir waren noch nicht sehr lange zusammen, und wir besaßen keinen Fotoapparat. Wir haben nie Reisen unternommen. Bei der Gelegenheit macht man ja meist Fotos, oder?«
»Und zu Weihnachten«, sagte Sigurður Óli.
»Ja, zu Weihnachten«, sagte sie.
»Aber seine Eltern?«
»Sie waren schon lange tot. Er war viel im Ausland gewesen. Er hat teilweise auf Frachtschiffen gearbeitet, und irgendwann einmal hat er auch in England oder Frankreich gelebt. Er hatte sogar einen ganz leichten Akzent, weil er so lange im Ausland gewesen war. In der Zeit, die von seinem Verschwinden an verging, bis das Auto schließlich gefunden wurde, sind ungefähr dreißig Busse mit den unterschiedlichsten Zielen losgefahren, aber keiner der Busfahrer hat bestätigen können, dass er bei ihnen im Bus gesessen hat. Die Polizei war der Meinung, dass die Busfahrer ihn bestimmt bemerkt hätten, falls er einen Bus genommen hätte, aber ich bin mir sicher, dass sie nur versucht haben, mich zu trösten. Ich glaube, dass sie der Meinung waren, er würde sich besoffen in der Stadt herumtreiben und irgendwann wieder auftauchen. Sie haben mir gesagt, dass Frauen manchmal in ihrer Angst die Polizei anrufen, aber meistens ließen sich die Kerle nur voll laufen, und die Frauen machten sich Sorgen.« Die Frau schwieg eine Weile.
»Ich glaube nicht, dass sie sich bei dieser Suche sehr viel Mühe gegeben haben«, sagte sie schließlich. »Sie kamen mir nicht sehr interessiert vor.«
»Was glaubst du, weshalb er mit dem Wagen zum Busbahnhof gefahren ist?«, fragte Erlendur. Er sah, dass Sigurður Óli sich die Bemerkung über die Polizei notierte.
»Ich habe absolut keine Ahnung.«
»Glaubst du, dass jemand anders den Wagen dorthin gefahren haben kann? Um dich oder die Polizei auf eine falsche Fährte zu lenken? Um den Eindruck zu erwecken, dass er die Stadt verlassen hat?«
»Ich weiß es nicht«, sagte die Frau. »Ich habe natürlich viel über diese Möglichkeit nachgedacht — dass er umgebracht worden ist, aber es ist mir völlig schleierhaft, wer das getan haben könnte und noch viel weniger, weswegen. Ich verstehe es einfach nicht.«