»Sich woran erinnern?«
»An die beiden Jungen, die mit ihrem Vater in die Berge gingen, und der jüngere Bruder kam ums Leben. Danach ist die Familie nach Reykjavik gezogen.« Erlendur schaute seinen Sohn an.
»Mit was für Leuten hast du geredet?«
»Mit irgendwelchen Leuten da in den Ostfjorden.«
»Und hast hinter mir herspioniert?«, fragte er schroff.
»Ich habe nicht hinter dir herspioniert«, sagte Sindri. »Eva Lind hat mir davon erzählt, und ich habe mich mal umgehört, was damals passiert ist.« Erlendur schob den Teller von sich.
»Und was ist passiert?«
»Ein verrücktes Unwetter. Dein Vater schaffte es nach Hause, und eine Suchmannschaft wurde ausgeschickt. Du warst in einer Schneewehe vergraben, als man dich fand. Dein Bruder wurde nie gefunden. Dein Vater hat sich nicht an der Suche beteiligt. Die Leute haben gesagt, dass er sich das so zu Herzen genommen hätte, dass er komisch wurde.«
»Komisch?«, sagte Erlendur gereizt. »Was für ein verdammter Blödsinn.«
»Deine Mutter hatte viel mehr Kraft. Sie ist jeden Tag mit den Suchtrupps losgezogen und dann später sogar ganz allein. Bis ihr zwei Jahre danach weggezogen seid. Sie ist immer wieder in die Berge gegangen und hat nach ihrem Sohn gesucht. Sie war darauf richtig fixiert.«
»Sie wollte ihn begraben«, sagte Erlendur, »darauf war sie fixiert.«
»Die Leute haben auch über dich gesprochen.«
»Es wäre besser, wenn du nicht auf solchen Klatsch und Tratsch hören würdest.«
»Sie haben gesagt, dass der ältere Bruder, der gerettet wurde, regelmäßig in den Osten käme und dort in den Bergen herumwandere. Es würden manchmal ein paar Jahre zwischen seinen Besuchen vergehen, und in letzter Zeit wäre er auch längere Zeit nicht da gewesen, aber das würde nichts besagen. Er käme allein und hätte ein Zelt dabei, würde sich ein paar Pferde ausleihen und ins Gebirge ziehen. Nach einer Woche oder zehn Tagen, manchmal sogar einem halben Monat, käme er wieder und führe dann nach Reykjavik zurück. Er würde nie mit jemandem reden, außer mit dem Mann, bei dem er die Pferde leiht, und auch dann sagte er nicht viel.«
»Reden die Leute im Osten wirklich immer noch darüber?«
»Das wohl nicht«, sagte Sindri. »Jedenfalls nicht viel. Ich habe mich bloß umgehört und habe mit Leuten geredet, die sich daran erinnern konnten und sich an dich erinnern konnten. Ich hab auch mit dem Bauern gesprochen, der dir die Pferde vermietet.«
»Warum hast du das getan? Du hast doch nie …«
»Eva Lind hat mir gesagt, dass sie dich besser versteht, nachdem du ihr davon erzählt hast. Sie will dauernd über dich reden. Ich habe nie Bock gehabt, über dich nachzudenken.
Aber du bedeutest ihr was, frag mich nicht wieso. Für mich spielst du keine Rolle. Ich finde die Situation okay. Ich finde es okay, dass ich dich nicht brauche und noch nie gebraucht habe. Eva braucht dich aber, und das hat sie schon immer getan.«
»Ich habe versucht, alles für Eva zu tun, was in meiner Macht steht«, sagte Erlendur.
»Ich weiß, das hat sie mir auch gesagt. Manchmal denkt sie, dass du dich nur einmischen willst, aber trotzdem glaube ich, dass sie ganz genau weiß, was du für sie tust.«
»Die sterblichen Überreste eines Menschen können noch viele Jahrzehnte später gefunden werden«, sagte Erlendur.
»Sogar Jahrhunderte später. Rein zufällig. Dafür gibt es viele Beispiele.«
»Bestimmt«, sagte Sindri. »Eva hat gemeint, dass du dich dafür verantwortlich fühlst, was mit ihm passiert ist. Weil du ihn nicht festhalten konntest. Gehst du deswegen in den Osten? Um zu suchen?«
»Ich glaube …« Erlendur verstummte.
»Wegen irgendwelcher Gewissensbisse?«
»Ich weiß nicht, ob es Gewissensbisse sind«, sagte er und lächelte schwach.
»Aber du hast ihn nie gefunden«, sagte Sindri.
»Nein«, sagte Erlendur.
»Deswegen zieht es dich immer wieder dorthin.«
»Es tut immer gut, wenn man einen Ortswechsel vornimmt und ein bisschen mit sich allein ist.«
»Ich hab mir das Haus angesehen, wo ihr früher gewohnt habt. Der Hof ist verfallen.«
»Ja«, sagte Erlendur, »schon seit langem. Eigentlich ist es nur noch eine Ruine. Ich habe manchmal überlegt, ob man es renovieren und zu einem Sommerhaus umfunktionieren lassen soll, aber …«
»Aber da ist doch völlig tote Hose.« Erlendur blickte Sindri an.
»Es tut immer noch gut, da zu schlafen. Bei den Geistern der Vergangenheit.«
Als er abends zu Bett ging, dachte er an die Worte seines Sohnes. Es stimmte, was Sindri gesagt hatte. Er war manchmal im Sommer in die Ostfjorde gefahren, um nach seinem Bruder zu suchen. Er wusste keinen anderen Grund dafür als den offensichtlichen, dass er die sterblichen Überreste finden wollte, um die Sache zum Abschluss zu bringen, auch wenn er sich im tiefsten Inneren klar darüber war, dass wenig Hoffnung bestand. Die erste und die letzte Nacht auf diesen Reisen verbrachte er immer in ihrem ehemaligen Wohnhaus. Der Hof war verlassen. Er schlief auf dem Fußboden im Wohnzimmer, schaute durch zerbrochene Fensterscheiben zum Himmel hinauf und dachte an die Zeiten zurück, als er hier in diesem Zimmer mit seiner Familie, mit Verwandten und befreundeten Nachbarn saß.
Er betrachtete die schön lackierte Zimmertür, sah seine Mutter mit der Kaffeekanne hereinkommen und den Gästen in der sanften Helligkeit der Wohnzimmerlampe Kaffee einschenken. Sein Vater stand an der Tür und lächelte über etwas, das gesagt worden war. Sein Bruder, den all diese Gäste schüchtern machten, kam zu ihm und fragte, ob er sich noch ein Stückchen Gebäck nehmen durfte. Er selber saß am Fenster und schaute zu den Pferden hinaus.
Die Leute hatten einen Ausritt gemacht, alle waren guter Dinge, und man unterhielt sich lebhaft.
Das waren die Geister seiner Vergangenheit.
Zehn
Marian Briem wirkte ein wenig frischer, als Erlendur am folgenden Tag frühmorgens vorbeischaute. Erlendur hatte einen Western mit John Wayne aufgetrieben, der The Searchers hieß. Marian schien sich zu freuen und bat ihn, die Kassette ins Videogerät einzulegen.
»Seit wann schaust du dir Western an?«, fragte Erlendur.
»Ich hatte schon immer ein Faible dafür«, sagte Marian Briem.
Die Sauerstoffmaske lag auf dem Tisch neben dem Sessel im Wohnzimmer. »Die besten erzählen einem simple Geschichten über simple Menschen, Hinterwäldler. Ich hätte gedacht, dass du als Hinterwäldler ebenfalls Spaß an solchen Geschichten aus dem Wilden Westen haben würdest.«
»Ich hab mich nie sonderlich fürs Kino interessiert«, sagte Erlendur.
»Kommst du mit dem Kleifarvatn-Fall vorwärts?«, erkundigte sich Marian.
»Was können wir daraus schließen, dass ein Skelett, das wahrscheinlich aus den sechziger Jahren stammt, gefunden wird und an ein russisches Abhörgerät gebunden ist?«, fragte Erlendur.
»Da kommt doch wohl nur eins in Frage«, entgegnete Marian.
»Spionage?«
»Ja.«
»Glaubst du tatsächlich, dass wir da im See einen richtigen isländischen Spion gefunden haben?«
»Wer sagt, dass er Isländer ist?«
»Muss man davon nicht ausgehen?«, entgegnete Erlendur zögernd.
»Es gibt keinen zwingenden Grund für die Annahme, dass es sich um einen Isländer handelt.« Marian Briem wurde plötzlich von einem Hustenanfall geschüttelt und rang nach Atem. »Reich mir die Sauerstoffmaske, dann geht’s mir wieder besser.«
Erlendur griff nach der Maske, legte sie ihm an und drehte den Hahn an der Sauerstoffflasche auf. Er überlegte, ob er die Krankenpflegerin zu Hilfe rufen sollte oder vielleicht sogar einen Arzt. Marian schien seine Gedanken lesen zu können.
»Mach kein Theater. Ich brauch keine Hilfe. Die Krankenpflegerin kommt nachher.«