»Das hier ist die gesamte Buchhaltung«, sagte der Mann und grinste entschuldigend. »Wir, ähem, wir sind es nicht gewöhnt, irgendwas wegzuschmeißen. Du kannst dir das alles gerne anschauen. Ich hatte keine Lust, solche Listen weiterzuführen. Ich sah nicht ein, wozu das gut sein sollte, aber der alte Haukur hat sie immer sehr gewissenhaft geführt.«
Erlendur bedankte sich bei ihm und fing an, die Ordner zu durchforsten, deren Rücken alle mit den entsprechenden Jahreszahlen beschriftet waren. Er wusste nicht, warum er nach diesem Auto suchte. Er hatte keine Ahnung, wie dieses Auto ihm weiterhelfen konnte, falls es noch existierte. Sigurður Óli hatte ihn gefragt, weswegen er sich ausgerechnet so für diesen Vermisstenfall interessierte und nicht für die anderen, die sie in den vergangenen Tagen ausgegraben hatten. Erlendur hatte keine plausible Antwort darauf. Sigurður Óli hätte kein Verständnis dafür gehabt, wenn er ihm gesagt hätte, dass ihm diese einsame Frau nicht aus dem Sinn ging, die geglaubt hatte, endlich das Glück ihres Lebens gefunden zu haben, und dann vor einem Milchgeschäft auf und ab ging, auf die Armbanduhr schaute und vergeblich auf den Mann wartete, den sie liebte.
Nach drei Stunden, in denen der Eigentümer sich mehrmals erkundigte, ob er fündig geworden sei, war Erlendur kurz davor, zu kapitulieren. Doch dann fand er endlich, wonach er suchte: den Rechnungsdurchschlag über den Verkauf des Autos. Am 21. Oktober 1979 war ein schwarzer Ford Falcon mit Motorschaden verkauft worden. Das Auto war von innen noch in gutem Zustand, ebenso der Lack. Keine Nummernschilder. An das Blatt mit der Beschreibung war eine mit Bleistift geschriebene Quittung angehängt, auf der stand: Falcon Produktionsjahr 1967, KR 35000. Käufer: Hermann Albertsson.
Elf
Der Erste Botschaftssekretär in der russischen Botschaft in Reykjavik war etwa im gleichen Alter wie Erlendur, aber er war wesentlich schlanker und wirkte ziemlich fit. Er nahm sie in Empfang und gab sich sichtlich Mühe, nicht förmlich zu wirken. Er trug einen Pullover und Khakihosen und erklärte lächelnd, er sei auf dem Weg zum Golfplatz. Nachdem Erlendur und Elínborg Platz genommen hatten, setzte er sich an seinen Schreibtisch und lächelte freundlich. Er war über den Zweck ihres Besuchs informiert; der Termin war schon vor einiger Zeit vereinbart worden, und die Golfverabredung verwunderte Erlendur. Daraus war nur zu schließen, dass er diese Besprechung so schnell wie möglich über die Bühne bringen und sie wieder hinauskomplimentieren wollte. Sie sprachen Englisch, und obwohl der Botschaftssekretär wusste, worum es ging, erklärte Elínborg mit einigen einleitenden Worten, weswegen sie ein Gespräch für nötig gehalten hatten. Ein russisches Abhörgerät sei an dem Skelett eines Mannes befestigt gewesen und der Tote höchstwahrscheinlich irgendwann nach 1961 damit im Kleifarvatn versenkt worden. Bislang seien noch keinerlei Informationen über die genauen Umstände an die Medien weitergegeben worden.
»Seit 1960 hat es eine ganze Reihe von sowjetischen und später russischen Botschaftern auf Island gegeben«, sagte der Botschaftssekretär und schien mit seinem selbstgefälligen Lächeln zum Ausdruck bringen zu wollen, dass nichts von dem, was sie erzählten, ihn persönlich etwas anginge. »Diejenigen, die hier in den sechziger Jahren und zu Anfang der Siebziger tätig waren, sind alle längst tot. Ich bezweifle auch, dass sie etwas über ein russisches Gerät in diesem See gewusst haben, genauso wenig wie ich.« Er lächelte. Erlendur erwiderte das Lächeln.
»Aber Sie haben doch hier während des Kalten Kriegs Spionage betrieben? Oder es zumindest versucht.«
»Das war vor meiner Zeit«, erwiderte der Botschaftssekretär. »Dazu kann ich nichts sagen.«
»Meinen Sie damit, dass Sie heutzutage keine Spionage mehr betreiben?«
»Was gibt es hier schon zu spionieren? Heutzutage geht man einfach wie alle anderen ins Internet. Außerdem spielt eure Militärbasis kaum noch eine so große Rolle für Island, falls sie denn überhaupt noch irgendeine Rolle spielt. Die Konfliktgebiete in der Welt haben sich verlagert. Amerika braucht den überdimensionalen Flugzeugträger Island nicht mehr. Niemand begreift, was dieser mordsteure Stützpunkt hier überhaupt soll. Wenn wir in der Türkei wären, könnte man es verstehen.«
»Das ist nicht unsere Militärbasis«, warf Elínborg ein.
»Uns ist bekannt, dass Angehörige der russischen Botschaft wegen Spionageverdacht des Landes verwiesen worden sind«, sagte Erlendur. »Als der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt war.«
»Da wissen Sie aber mehr als ich«, sagte der Botschaftssekretär. »Und selbstverständlich ist das Ihr Stützpunkt«, fügte er hinzu, während er Elínborg anblickte. »Machen Sie sich da doch nichts vor.«
Dann wandte er sich wieder Erlendur zu. »Falls wir Spione in unserer Botschaft hatten, waren es bestimmt nur halb so viele, wie es CIA-Agenten gab, die in der amerikanischen Botschaft herumliefen. Haben Sie sich dort mal erkundigt?
Ihren Darstellungen nach hört es sich so an, als handele es sich, na, wie wollen wir es ausdrücken, als handele es sich um einen Mafiamord. Ist Ihnen das noch nicht in den Sinn gekommen? Ein Zementklotz und ein tiefer See. Klingt ganz wie ein amerikanischer Gangsterfilm.«
»Es handelt sich aber um einen russischen Apparat«, sagte Erlendur, »der bei der Leiche gefunden wurde, ich meine, bei dem Skelett.«
»Das muss gar nichts besagen«, erwiderte der Botschaftssekretär. »Hier gab es andere Botschaften der Ostblockländer, die damals Geräte verwendet haben, die aus der ehemaligen Sowjetunion kamen. Unsere Botschaft muss damit nicht das Geringste zu tun haben.«
»Wir haben hier eine genauere Beschreibung des Geräts und Fotos«, sagte Elínborg und reichte ihm die Fotos und die dazugehörigen Papiere. »Können Sie uns etwas dazu sagen, wozu es verwendet wurde? Oder wer es verwendet hat?«
»Ich kenne das Gerät nicht«, sagte der Botschaftssekretär, während er sich die Fotos ansah. »Leider. Ich werde mich aber kundig machen. Doch selbst wenn es uns gelingt, das Gerät zu identifizieren, sehe ich nicht, wie wir Ihnen behilflich sein können.«
»Sollte man es nicht einfach darauf ankommen lassen?«, fragte Erlendur.
Der Botschaftssekretär lächelte.
»Sie müssen mir einfach glauben. Das Skelett im See hat nicht das Geringste mit dieser Botschaft und ihren Angehörigen zu tun. Weder damals noch heute.«
»Wir gehen davon aus, dass es ein Abhörsender ist«, sagte Elínborg. »Er war auf den früheren Frequenzbereich der amerikanischen Streitkräfte in Keflavík eingestellt.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, sagte der Botschaftssekretär und schaute auf seine Armbanduhr. Der Golfplatz wartete.
»Falls Sie seinerzeit spioniert hätten — was Sie selbstverständlich nicht getan haben«, sagte Erlendur, »was hätte dann wohl Ihr Interesse auf sich gezogen?«
Der Botschaftssekretär zögerte ein wenig.
»Falls wir etwas Derartiges getan hätten, hätten wir natürlich gern gewusst, was da auf dem Stützpunkt vor sich ging, beispielsweise die Militärtransporte und die Positionierung von Kriegsschiffen, Flugzeugen und U-Booten.
Wir hätten sicher gern etwas über die jeweiligen Truppenstärken in Erfahrung gebracht. Das können Sie sich doch selber ausrechnen. Und wir hätten versucht, uns Informationen über die Wirksamkeit der Basis und der anderen militärischen Anlagen in Island zu beschaffen. Die waren über die ganze Insel verteilt, nicht nur in Keflavík.
Die Amerikaner waren überall im Land präsent. Wir hätten auch die Arbeit anderer Botschaften abgecheckt, die isländische Innenpolitik, die politischen Parteien und dergleichen.«