Sie fühlte sich elend und war den Tränen nahe, während sie auf das Skelett im Sand starrte.
Etwa eine Stunde später näherte sich ein Streifenwagen aus Hafnarfjörður. Die Polizeibeamten schienen es nicht eilig zu haben, sondern fuhren ganz gemächlich die Straße entlang, die zum See führte. Es war Mai, die Sonne stand hoch am Himmel und spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche. Sie saß im Sand, behielt die Straße im Auge, und als das Auto näher kam, winkte sie. Das Auto fuhr an den Straßenrand und stoppte. Zwei Polizisten stiegen aus, blickten in ihre Richtung und setzten sich dann in Bewegung.
Sie betrachteten das Skelett geraume Zeit, ohne ein Wort zu sagen. Dann stieß der eine mit der Fußspitze gegen eine Rippe.
»Ob der wohl hier geangelt hat?«, sagte er zu seinem Begleiter.
»Du meinst von einem Boot auf dem Wasser aus?«, sagte der Kollege.
»Oder er ist bis hierher gewatet.«
»Da ist ein Loch«, sagte sie und schaute von einem zum anderen. »Im Schädel.« Einer der beiden beugte sich hinunter.
»Nanu«, sagte er.
»Er kann gefallen sein und sich den Schädel aufgeschlagen haben«, sagte sein Kollege.
»Der Schädel ist voller Sand«, sagte derjenige, der zuerst gesprochen hatte.
»Sollten wir vielleicht den Kollegen von der Kripo Bescheid sagen?«, fragte der andere nachdenklich.
»Sind nicht die meisten von denen gerade in Amerika?«, fragte sein Kollege zurück und blickte zum Himmel. »Auf so einer internationalen Konferenz über Kriminalität.« Der andere Polizist nickte zustimmend. Die beiden standen wieder eine ganze Weile schweigend neben dem Skelett, bis der eine sich an sie wandte.
»Wo ist eigentlich das ganze Wasser hin?«, fragte er. »Darüber gibt es die verschiedensten Theorien«, antwortete sie. »Was wollt ihr jetzt machen? Kann ich vielleicht nach Hause fahren?«
Sie blickten einander an, notierten dann ihren Namen und bedankten sich bei ihr, entschuldigten sich jedoch nicht, dass sie so lange hatte warten müssen. Ihr war es egal. Sie hatte keine Eile. Es war ein schöner Tag am See, sie hätte ihren Kater hier nur wesentlich besser auskurieren können, wenn sie nicht auf das Skelett gestoßen wäre. Sie überlegte, ob der Mann mit den schwarzen Socken wohl das Weite gesucht hatte, und hoffte es inständig. Sie freute sich darauf, ein Video auszuleihen und sich am Abend vor dem Fernseher unter eine Decke zu kuscheln.
Sie warf einen letzten Blick auf die Knochen und das Loch im Schädel.
Vielleicht wäre ein guter Krimi angebracht.
Zwei
Die Polizisten meldeten den Skelettfund auf dem Boden des Sees beim Polizeirevier in Hafnarfjörður, und sie brauchten einige Zeit, um den Tatbestand zu erklären, dass sie trockenen Fußes mitten im See stehen konnten. Der Hauptwachtmeister setzte sich telefonisch mit dem zuständigen Beamten beim Isländischen Landeskriminalamt in Verbindung, gab die Meldung über den Skelettfund weiter und wollte wissen, ob der Fall nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen würde.
»Das ist ein Fall für die Identifizierungskommission«, erklärte der zuständige Beamte. »Ich glaube, ich weiß den richtigen Mann dafür.«
»Und wer ist das?«
»Wir mussten ihn zwingen, Urlaub zu nehmen. Soweit ich weiß, hat er fünf Jahre Urlaub angesammelt, aber ich bin mir sicher, dass er froh sein wird, etwas zu tun zu bekommen. Er ist spezialisiert auf Vermisstenfälle. So eine Kleinarbeit macht ihm Spaß.«
Nachdem sich der Polizeikommissar von seinem Kollegen in Hafnarfjörður verabschiedet hatte, griff er wieder zum Telefon und veranlasste, dass Erlendur Sveinsson benachrichtigt und mitsamt seinem Team zum Kleifarvatn im Süden von Reykjavik geschickt wurde.
Erlendur war in seine Lektüre vertieft, als das Telefon klingelte. Die schweren Vorhänge vor den Fenstern im Wohnzimmer waren zugezogen, denn Erlendur versuchte, die helle Maisonne, so gut es ging, auszusperren. Da es in der Küche keine richtigen Gardinen gab, hatte er die Tür dorthin zugemacht. Auf diese Weise war es im Wohnzimmer dunkel genug um ihn herum, dass er Grund hatte, seine Stehlampe beim Sessel anzuschalten.
Erlendur kannte die Geschichte gut, denn er hatte sie schon mehrmals gelesen. Im Herbst 1868 hatten sich einige Männer aus dem Skaftártunga-Bezirk auf den Weg gemacht.
Sie wollten in den Südwesten zur Halbinsel Reykjanes, um von dort aus zum Fischen hinauszurudern. Sie nahmen die kürzeste Strecke »Hinter den Bergen«, an der nördlichen Seite des Mýrdal-Gletschers entlang. Mit dabei war ein junger Bursche von 17 Jahren, der David hieß. Die Männer waren an solche Reisen gewöhnt, und sie kannten die Strecke, aber bald nachdem sie in die Berge aufgebrochen waren, brach ein Unwetter herein, und sie kehrten nie wieder in bewohnte Gebiete zurück. Eine umfangreiche Suche nach ihnen wurde eingeleitet, aber man fand nicht die geringste Spur. Erst zehn Jahre später wurden ihre Knochen aus purem Zufall bei einer großen Sanddüne südlich von Kaldaklof entdeckt. Sie hatten eine Plane über sich gebreitet und lagen dicht nebeneinander.
Erlendur blickte im dämmrigen Licht hoch und sah im Geiste den jungen Burschen in der Gruppe vor sich, besorgt und ängstlich. Vor der Abreise schien er zu spüren, worauf es hinauslaufen würde; die ganze Gegend sprach darüber, dass er seine alten Spielsachen an seine Geschwister verteilt und gesagt hatte, dass er sie nicht wieder zurückfordern werde.
Erlendur legte das Buch weg, stand mit steifen Gliedern auf und nahm den Hörer ab. Es war Elínborg.
»Du kommst doch, oder?«, war ihre erste Frage.
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte Erlendur.
Elínborg hatte ein Kochbuch zusammengestellt, das jetzt endlich erscheinen sollte.
»Mein Gott, was bin ich nervös. Was glaubst du, wie es wohl ankommen wird?«
»Ich kann noch nicht mal richtig mit der Mikrowelle umgehen«, sagte Erlendur, »deswegen bin ich vielleicht nicht …«
»Beim Verlag sind sie sehr angetan«, unterbrach Elínborgihn.
»Und die Fotos von den Gerichten sind fantastisch. Dafür wurde sogar ein spezieller Beleuchter hinzugezogen. Und dann gibt es ein Extrakapitel über Weihnachtsessen …«
»Elínborg.«
»Ja.«
»Hattest du einen bestimmten Grund, mich anzurufen?«
»Irgendwelche Knochen im Kleifarvatn«, sagte Elínborg und senkte die Stimme, als es nun nicht mehr um ihr Kochbuch ging. »Ich soll dich abholen. Der See ist kleiner geworden oder irgendsowas, und deswegen hat man dort heute morgen Knochen gefunden. Sie möchten, dass du dir das anschaust.«
»Der See ist kleiner geworden?«
»Ja, ich habe das allerdings nicht so richtig mitgekriegt.«
Sigurður Óli stand bei dem Skelett, als Erlendur und Elínborg am See eintrafen. Man erwartete die Spezialisten von der Spurensicherung. Die Polizisten aus Hafnarfjörður fummelten mit dem gelben Absperrband herum, um die Fundstelle abzugrenzen, mussten aber feststellen, dass sie nichts hatten, woran sie es befestigen konnten. Sigurður Óli beobachtete ihre Bemühungen und versuchte vergeblich, sich an irgendwelche typischen Witze zu erinnern, die man sich über die Einwohner von Hafnarfjörður erzählte.
»Hast du nicht Urlaub?«, fragte er Erlendur, der ihm auf dem sandigen Seegrund entgegenkam.
»Doch«, sagte Erlendur. »Was gibt’s Neues bei dir?«
»Same old …«, sagte Sigurður Óli. Er blickte zur Straße hoch, wo in diesem Augenblick ein klotziger Jeep von einer der Fernsehanstalten am Rand hielt. »Sie haben ihr gestattet, nach Hause zu fahren«, fuhr er fort und nickte in Richtung der Polizisten aus Hafnarfjörður. »Der Frau, die die Knochen gefunden hat. Sie hat hier irgendwelche Messungen durchgeführt. Wir können uns später mit ihr unterhalten, falls wir in Erfahrung bringen müssen, weshalb der See verschwunden ist. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, wären wir hier an dieser Stelle jetzt auf Tauchstation.«