»Sie war sehr mutig«, sagte Ulrike.
»Sie hatte systemkritische Ansichten«, sagte Karl. »Das wurde nicht geduldet.«
Erlendur klopfte bei Haraldur im Altersheim an die Tür.
Das Frühstück war gerade vorbei, und aus dem Speisesaal hörte man noch Geschirrklappern. Sigurður Óli war mit ihm gekommen. Sie hörten, wie Haraldur drinnen etwas rief, und Erlendur öffnete die Tür. Haraldur saß wie zuvor vorgebeugt und mit dem Kopf zwischen den Schultern auf der Bettkante und starrte auf den Boden. Er hob den Kopf ein wenig, als sie das Zimmer betraten.
»Wer ist das denn?«, fragte er, als er Sigurður Óli erblickte.
»Einer meiner Mitarbeiter«, sagte Erlendur.
Statt Sigurður Óli zu begrüßen, starrte Haraldur ihn so grimmig an, als müsse Sigurður Óli sich vor ihm in Acht nehmen. Erlendur setzte sich auf einen Stuhl, der vor Haraldurs Bett stand. Sigurður Óli blieb stehen und lehnte sich an die Wand.
Die Zimmertür öffnete sich wieder, und ein grauhaariger Mann steckte seinen Kopf herein.
»Haraldur«, sagte er, »heute Abend Abendandacht auf Nummer 11.«
Der Mann wartete keine Antwort ab, sondern machte die Tür gleich wieder zu. Erlendur starrte völlig verblüfft auf Haraldur.
»Abendandacht? Du gehst doch wohl nicht zu so was?«
»Abendandacht heißt nichts anderes als Besäufnis«, grunzte Haraldur. »Ich hoffe, dass du nicht enttäuscht bist.«
Sigurður Óli musste innerlich grinsen, war aber mit seinen Gedanken ganz woanders. Es stimmte nämlich nicht ganz, was er Elínborg gesagt hatte, als sie morgens miteinander telefonierten. Bergþóra war wieder bei einer Untersuchung gewesen, und der Arzt hatte ihr eröffnet, dass alles sehr unsicher sei. Bergþóra versuchte, optimistisch zu klingen, als sie ihm das erzählte, aber er wusste, wie sehr sie sich damit quälte.
»Also, dann los«, sagte Haraldur. »Mag sein, dass ich euch nicht die ganze Wahrheit gesagt habe, aber ich kapier auch kein bisschen, warum ihr einem so auf die Pelle rücken müsst. Aber es … ich wollte …«
Erlendur bemerkte ein seltsames Zaudern, als der alte Mann den Kopf hob, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Die Sauerstoffzufuhr bei Jói war abgeschnitten«, sagte er und schaute wieder zu Boden. »Das war der Grund. Bei der Geburt. Sie gingen davon aus, dass alles in Ordnung war, er gedieh prächtig. Dann stellte sich heraus, dass er anders war.
Als er heranwuchs. Er war nicht wie die anderen Kinder.« Sigurður Óli sah zu Erlendur hinüber und gab ihm mit seiner Miene zu verstehen, dass er keine Ahnung hatte, wovon der Alte redete. Erlendur zuckte mit den Achseln. Haraldur legte ein verändertes Benehmen an den Tag, er war nicht so ruppig wie sonst.
»Es stellte sich heraus, dass er komisch im Kopf war«, fuhr Haraldur fort. »Ein armer Tropf. Geistig zurückgeblieben, aber eine Seele von Mensch. Er war völlig unselbstständig und hat nicht einmal lesen gelernt. Das stellte sich erst viel später heraus. Wir haben lange gebraucht, bis wir es uns eingestanden und akzeptierten.«
»Das muss schwer für deine Eltern gewesen sein«, sagte Erlendur nach einer längeren Pause, als es ganz den Anschein hatte, als wolle Haraldur nicht weiterreden.
»Als sie starben, musste ich für Jói sorgen«, sagte Haraldur schließlich und starrte wieder auf den Boden. »Wir haben da auf dem Hof gewohnt, und zum Schluss war es nur noch ein Verlustgeschäft. Außer dem Grund und Boden besaßen wir nichts, was wir hätten verkaufen können. Der Grundbesitz hatte allerdings einigen Wert, weil er so nahe bei Reykjavik lag, und wir haben gut daran verdient. Konnten eine Wohnung kaufen und hatten noch Geld übrig.«
»Was wolltest du uns eigentlich sagen?«, fragte Sigurður Óli ungeduldig. Erlendur sah ihn scharf an.
»Mein Bruder hat diese Radkappe an dem Auto gestohlen«, sagte Haraldur. »Das war das ganze Verbrechen, und jetzt könnt ihr mich in Ruhe lassen«, fügte er hinzu. »Mehr war es nicht. Ich kapiere nicht, wie ihr so viel Aufhebens davon machen könnt. Nach all diesen Jahren. Er hat eine Radkappe geklaut! Ist das vielleicht ein schweres Verbrechen?«
»Wir reden also über den schwarzen Ford Falcon?«, sagte Erlendur.
»Ja, es war der schwarze Falcon.«
»Leopold ist zu euch auf den Hof gekommen«, sagte Erlendur. »Das gibst du also endlich zu.« Haraldur nickte.
»Hattest du irgendwelche stichhaltigen Gründe dafür, dass du das ein ganzes Menschenalter allen zum Verdruss und völlig überflüssigerweise verheimlicht hast?«, fragte Erlendur schroff.
»Halt mir jetzt bloß keine Predigt«, sagte Haraldur. »Das bringt nichts.«
»Menschen haben jahrzehntelang gelitten«, sagte Erlendur.
»Wir haben ihm nichts getan. Ihm ist nichts zugestoßen.«
»Du hast die polizeiliche Ermittlung behindert.«
»Du kannst mich gerne einbuchten«, sagte Haraldur. »Das macht kaum einen Unterschied für mich.«
»Was geschah damals?«, fragte Sigurður Óli.
»Mein Bruder war ein einfältiger Mensch«, sagte Haraldur, »aber er hat diesem Mann nichts getan. Er war kein bisschen gewalttätig. Er fand diese verdammte Radkappe schön und hat eine geklaut, es waren immer noch drei dran. Er fand, dass drei Kappen für den Mann ausreichten.«
»Und wie reagierte der Mann?«, fragte Sigurður Óli.
»Ihr habt nach dem Mann gesucht, der vermisst wurde«, fuhr Haraldur fort und starrte Erlendur an. »Ich wollte die Sache nicht noch komplizierter machen. Ihr hättet uns die Hölle heiß gemacht, wenn ich zugegeben hätte, dass Jói die Radkappe gemopst hat. Ihr wärt bestimmt davon ausgegangen, dass Jói ihn umgebracht hat. Er hat es natürlich nicht getan, aber ihr hättet es nicht geglaubt und Jói in den Knast gebracht.«
»Wie reagierte dieser Mann, als dein Bruder die Radkappe genommen hatte?«, fragte Sigurður Óli noch einmal.
»Er schien ziemlich gestresst zu sein.«
»Und was ist passiert?«
»Er griff meinen Bruder an«, sagte Haraldur. »Das hätte er nicht tun sollen, denn Jói war zwar geistig zurückgeblieben, aber er war stark. Er schleuderte ihn von sich, als sei er federleicht.«
»Und brachte ihn um«, sagte Erlendur.
Haraldur reckte langsam den Kopf zwischen den krummen Schultern hoch.
»Was habe ich dir gerade eben gesagt?«
»Warum sollen wir dir jetzt glauben, wenn du die ganzen Jahre gelogen hast?«
»Ich beschloss, so zu tun, als sei er nie gekommen, als hätten wir ihn nie getroffen. Das war die beste Lösung. Wir haben ihm nichts getan. Als er von uns wegfuhr, war alles in Ordnung mit ihm.«
»Warum sollen wir dir jetzt glauben?«, wiederholte Sigurður Óli.
»Jói hat niemanden umgebracht«, sagte Haraldur und betonte jedes Wort. »Dazu wäre er nie imstande gewesen. Er konnte keiner Fliege was zuleide tun, mein Jói. Aber das hättet ihr nie geglaubt. Ich versuchte, ihm gut zuzureden, damit er die Radkappe hergab, aber er wollte uns nicht sagen, wo er sie versteckt hatte. Jói war ein bisschen so wie die Raben, er war versessen auf alles, was glitzerte. Und diese Radkappen waren neu und glänzten schön. Er wollte unbedingt eine haben. Das war das ganze Verbrechen. Der Mann kriegte einen unglaublichen Wutanfall und drohte uns, und dann ging er auf Jói los. Wir haben uns geprügelt, und anschließend musste er mit Schimpf und Schande abziehen, und wir haben ihn nie wieder gesehen.«
»Und warum soll ich das glauben?«, fragte Erlendur.
Haraldur schnaubte.
»Mir ist es scheißegal, was du glaubst«, sagte er. »Mach daraus, was du willst.«
»Warum hast du der Polizei nicht diese rührende Geschichte erzählt, als nach dem Mann gesucht wurde?«
»Die Polizei schien nicht sonderlich viel Interesse an irgendwas zu haben«, sagte Haraldur. »Sie haben nicht um Erklärungen gebeten. Sie haben ein Protokoll angefertigt, und damit basta.«