»Dein Mann hat nicht bei dir angerufen und dir davon erzählt?«, fragte Elínborg.
»Nein«, sagte die Frau, und Erlendur spürte die Trauer, die sie umgab. »Er rief an, wie ich schon gesagt habe, aber die Kündigung hat er mit keinem Wort erwähnt.«
»Weswegen wurde er entlassen?«, fragte Erlendur.
»Ich habe darauf nie eine befriedigende Antwort bekommen. Ich nehme an, der Besitzer hatte Mitleid mit mir und wollte mich schonen, als er mit mir sprach. Er sagte, sie hätten Personal abbauen müssen, weil die Umsätze zurückgingen, aber später ist mir dann zu Ohren gekommen, dass Ragnar kein Interesse mehr für seinen Job aufbrachte.
Er interessierte sich einfach nicht mehr für seine Arbeit.
Das war, nachdem er zu einem Klassentreffen seiner früheren Mitschüler aus dem Gymnasium gegangen war, danach sprach er darüber, dass er eine richtige Ausbildung machen wollte. Er wurde zu dem Klassentreffen eingeladen, obwohl er von der Schule abgegangen war. Seine ehemaligen Mitschüler waren alle Ärzte, Juristen oder Ingenieure. Er hörte sich an, als bereute er es, damals die Schule ohne Abschluss verlassen zu haben.«
»Hast du das irgendwie mit seinem Verschwinden in Verbindung gebracht?«, hakte Erlendur nach.
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Kristin. »Genauso gut hätte ich es mit einem kleinen Streit in Verbindung bringen können, den wir einen Tag vorher hatten. Oder damit, dass der Junge nachts schwierig war. Oder dass Ragnar sich kein neues Auto leisten konnte. Ich weiß im Grunde genommen nicht, was ich denken soll.«
»War er depressiv veranlagt?«, fragte Elínborg, der auffiel, dass die Frau sich so anhörte, als sei das alles erst kürzlich passiert.
»Nicht mehr und nicht weniger als alle anderen Isländer. Er verschwand im Herbst, falls das etwas zu sagen hat.«
»Seinerzeit hast du ausdrücklich erklärt, dass ein Verbrechen ausgeschlossen sei«, sagte Erlendur.
»Ja«, erwiderte sie. »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Er hatte nichts mit solchen Dingen zu tun. Es wäre dann ein purer Zufall gewesen, also dass er jemanden getroffen hat, der ihn aus unerfindlichen Gründen umbrachte. Ich habe nie in Erwägung gezogen, dass so etwas passiert sein könnte, und die Polizei auch nicht. Ihr habt sein Verschwinden nicht als Verbrechen behandelt. Er blieb noch im Büro, als alle anderen gingen, und da hat man ihn zuletzt gesehen.«
»Das Verschwinden wurde also nie unter dem Aspekt untersucht, dass es sich um einen Kriminalfall handeln könnte?«, fragte Elínborg.
»Nein«, sagte Kristin.
»Sag mir etwas ganz anderes«, warf Erlendur ein. »War dein Mann möglicherweise Funkamateur?«
»Funkamateur? Was ist das denn?«
»Eigentlich weiß ich das auch nicht so genau«, sagte Erlendur und blickte Hilfe suchend zu Elínborg hinüber. Die saß da und schwieg. »Das sind Leute, die irgendwelche Funkgeräte besitzen und sich mit Leuten in aller Welt unterhalten«, fuhr Erlendur fort. »Dazu braucht oder brauchte man ziemlich große Geräte und Antennen, um eine möglichst große Reichweite zu erlangen. Hat er so ein Gerät besessen?«
»Nein«, sagte die Frau. »Funkamateur?«
»Oder hatte er sonst irgendwas mit Fernmeldesachen zu tun?«, fragte Elínborg. »Besaß er ein Funkgerät?«
»Was habt ihr da eigentlich im Kleifarvatn gefunden?«, fragte die Frau mit verwunderter Miene. »Er hat nie ein Funkgerät besessen. Was für ein Funkgerät denn?«
»Hat er jemals im Kleifarvatn geangelt?«, fragte Elínborg, ohne auf diese Frage einzugehen. »Kannte er sich dort aus?«
»Nein, nie. Fürs Angeln interessierte er sich nicht. Mein Bruder ist leidenschaftlicher Angler und wollte ihn unbedingt mit auf eine Lachsangeltour nehmen, aber Ragnar hatte keine Lust. Da war er genau wie ich, darin waren wir uns einig. Wir waren dagegen, ohne Not oder sogar nur aus Spaß Tiere zu töten. Am Kleifarvatn sind wir nie gewesen.«
Erlendur fiel ein schön gerahmtes Foto auf einem Regal im Wohnzimmer ins Auge. Es zeigte Kristin mit einem kleinen Jungen, den er für ihren vaterlosen Sohn hielt. Er musste an seinen eigenen Sohn Sindri denken. Erlendur hatte nicht gleich begriffen, warum er gekommen war.
Sindri war ihm bisher immer aus dem Weg gegangen, ganz anders als Eva Lind, die ihn dafür zur Verantwortung ziehen wollte, dass er sich nicht um seine Kinder gekümmert hatte, als sie klein waren. Erlendur hatte sich nach kurzer Ehe von ihrer Mutter scheiden lassen, und je mehr Jahre ins Land gingen, desto mehr bereute er es, keinen Kontakt zu seinen Kindern gehabt zu haben.
Sie hatten sich verlegen wie zwei Unbekannte auf dem Etagenflur die Hand gegeben. Er ließ Sindri in die Wohnung und setzte Kaffee auf. Sindri erklärte, auf der Suche nach einem Zimmer oder einem Appartement zu sein. Erlendur sagte, dass er von keiner Wohnung wüsste, versprach aber, sich umzuhören und sich mit ihm in Verbindung zu setzen und ihm Bescheid zu sagen, falls er von etwas erfuhr.
»Vielleicht kann ich ja in der Zwischenzeit hier bei dir bleiben«, sagte Sindri und seine Blicke wanderten an den Bücherregalen entlang.
»Hier?«, echote Erlendur und erschien in der Küchentür.
Ihm ging ein Licht auf, was Sindri mit seinem Besuch bezweckte.
»Eva hat mir gesagt, dass du ein Zimmer hast, wo nur irgendwelcher Kram drinsteht.«
Erlendur schaute seinen Sohn an. Er hatte ein ungenutztes Zimmer in seiner Wohnung. Der Kram, über den Eva gesprochen hatte, waren Dinge, die im Besitz seiner Eltern gewesen waren und die er aufbewahrte, weil er es nicht übers Herz brachte, sie wegzuwerfen. Sachen aus seiner Kindheit. Eine Truhe mit Briefen seiner Eltern und Ahnen, ein handgeschnitztes Wandregal, Stapel von Zeitschriften, Bücher, Angelruten, eine alte, bleischwere Schrotflinte seines Großvaters, die nicht mehr funktionierte.
»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte Erlendur, »kannst du nicht zu ihr?«
»Ja, natürlich«, entgegnete Sindri. »Ich versuch’s bei ihr!« Sie schwiegen.
»Nein, da in dem Zimmer ist kein Platz«, sagte Erlendur.
»Und dann … ich weiß nicht …«
»Eva hat aber doch auch hier übernachtet«, sagte Sindri.
Seinen Worten folgte tiefes Schweigen. »Sie hat gesagt, dass du dich geändert hast«, sagte Sindri schließlich.
»Was ist mit dir?«, fragte Erlendur. »Hast du dich geändert?«
»Ich hab schon ein paar Monate keinen Alkohol mehr angerührt«, erklärte Sindri. »Falls du darauf anspielst.«
Erlendur kam wieder zu sich und trank einen Schluck Kaffee. Seine Blicke glitten von dem Foto hinüber zu Kristin.
Jetzt verlangte es ihn nach einer Zigarette.
»Der Junge hat also nie seinen Vater gekannt«, sagte er. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Elínborg ihn scharf ansah, aber er ließ sich nicht beirren. Er wusste ganz genau, dass er in die Privatsphäre der Frau eingedrungen war, die vor mehr als dreißig Jahren ihren Mann auf so rätselhafte Weise verloren und nie eine befriedigende Erklärung erhalten hatte. Erlendurs Frage hatte nichts mit den Ermittlungen zu tun.
»Sein Stiefvater ist immer sehr gut zu ihm gewesen, und zwischen ihm und seinen Brüdern herrscht ein gutes Verhältnis«, erwiderte sie. »Ich verstehe aber nicht, was das mit dem Verschwinden meines Mannes zu tun hat.«
»Nein, entschuldige bitte«, sagte Erlendur.
»Das war’s dann wohl, denke ich«, erklärte Elínborg.
»Glaubt ihr, dass er es ist?«, fragte Kristin und stand auf.
»Meiner Meinung nach spricht wenig dafür«, sagte Elínborg. »Aber wir müssen uns erst noch eingehender mit der Sache befassen.«
Sie blieben einen Augenblick stehen, ohne sich zu rühren, so als sei noch etwas unausgesprochen, als läge etwas in der Luft, das erwähnt werden musste, bevor sie auseinander gingen.
»Ein Jahr nachdem er verschwunden war«, sagte Kristin, »wurde auf Snæfellsnes eine Leiche an Land getrieben. Man glaubte zuerst, dass er es sei, aber dann stellte sich heraus, dass es nicht stimmte.«