Tómas war im Keller, als er die Türklingel hörte. Er wusste, dass es die Polizei sein musste. Aus dem Kellerfenster hatte er gesehen, wie zwei Männer aus einem schwarzen Auto ausstiegen. Es war Zufall, dass sie genau in diesem Augenblick kamen. Er hatte das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer über auf sie gewartet, und jetzt war es bereits Herbst. Er hatte gewusst, dass ihm dieser Besuch bevorstand. Er ging davon aus, dass sie, falls sie irgendetwas taugten, am Ende vor seiner Tür stehen und darauf warten würden, dass er öffnete.
Er wandte seinen Blick vom Kellerfenster ab und dachte an Ilona. Sie hatten einmal vor dem Bach-Monument an der Thomaskirche gestanden. Es war ein schöner Sommertag, und sie umarmten sich. Um sie herum waren Leute unterwegs, Straßenbahnen und Autos, aber trotzdem waren sie ganz allein auf der Welt.
Er hielt den englischen Revolver in der Hand, der aus dem Zweiten Weltkrieg stammte. Sein Vater hatte ihn besessen und ihn seinem Sohn samt Munition geschenkt. Er hatte die Waffe geölt, geputzt und poliert und vor ein paar Tagen vor den Toren der Stadt im Freizeitpark Heiðmörk ausprobiert. Eine Kugel steckte noch darin. Er hob die Hand und hielt sich die Waffe an die Schläfe.
Ilona schaute an der Kirche hoch, zum Turm hinauf. »Du bist mein Thomas«, sagte sie und küsste ihn. Bach starrte über ihnen regungslos in die Ewigkeit, aber er glaubte zu sehen, wie ein Lächeln um seine Lippen spielte. »Immer«, sagte er. »Ich werde immer dein Thomas sein.«
»Wer ist dieser Mann?«, fragte Sigurður Óli, während er und Erlendur auf dem Treppenabsatz standen. »Ist er überhaupt wichtig?«
»Ich weiß nur das, was Hannes sagte«, antwortete Erlendur. »Er war in Leipzig und hatte dort eine Freundin.« Er klingelte noch einmal, während sie dastanden und warteten.
Ein Knall drang zu ihnen heraus. Es klang so, als sei drinnen im Haus mit einem Hammer gegen eine Wand geschlagen worden. Erlendur sah Sigurður Óli an. »Hast du das gehört?«
»Da drinnen ist jemand«, sagte Sigurður Óli. Erlendur hämmerte gegen die Tür und drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Sie betraten das Haus und riefen, erhielten aber keine Antwort. Sie bemerkten eine Tür, hinter der eine Treppe in den Keller führte. Erlendur stieg vorsichtig die Stufen hinunter und sah einen Mann auf dem Boden liegen, an seiner Seite ein vorsintflutlicher Revolver.
»Hier ist ein Umschlag, der an uns addressiert ist«, sagte Sigurður Óli, der jetzt die Treppe herunterkam. Er hielt einen dicken, gelben Umschlag in der Hand. »Was?«, fragte er, als er den Mann auf dem Boden erblickte.
»Weswegen hast du das getan?«, sagte Erlendur wie zu sich selbst.
Er trat zu der Leiche hin und starrte auf Tómas hinunter. »Weswegen?«, flüsterte er.
Erlendur besuchte die Verlobte des Mannes, der sich Leopold genannt hatte, aber Emíl hieß, und teilte ihr mit, dass das Skelett im Kleifarvatn die irdischen Überreste des Mannes waren, den sie geliebt hatte und der aus ihrem Leben verschwand, als sei er vom Erdboden verschluckt worden. Er blieb eine ganze Weile bei ihr, saß mit ihr im Wohnzimmer und erzählte ihr von dem, was Tómas niedergeschrieben und hinterlassen hatte, bevor er sich in den Keller begab. Er beantwortete ihre Fragen, so gut er konnte. Sie war sehr gefasst und zeigte keinerlei Reaktion, als Erlendur ihr sagte, dass Emíl wahrscheinlich für die DDR gearbeitet hätte.
Obwohl seine Geschichte sie überraschte, wusste Erlendur, dass es für sie nicht darum ging, was Emíl getan hatte oder wer er war, als er sich gegen Abend von ihr verabschiedete. Er konnte die Frage nicht beantworten, von der er wusste, dass sie ihr mehr als alle anderen auf den Lippen brennen musste. War ihre Liebe gegenseitig gewesen? Hatte er sie geliebt? Oder hatte er sie nur für seine Zwecke ausgenutzt? Sie versuchte, die Frage zu formulieren, bevor er ging. Er spürte, wie schwer ihr das fiel, und deswegen nahm er sie einfach in die Arme. Sie kämpfte mit den Tränen. »Du weißt es«, sagte er. »Du weißt es selbst am allerbesten, nicht wahr?«
Kurze Zeit später kam Sigurður Óli eines Abends aus dem Büro nach Hause und sah, dass Bergþóra völlig aufgelöst und hilflos im Wohnzimmer stand und ihn mit gebrochenen Augen anstarrte. Er wusste sofort, was passiert war. Er eilte zu ihr und versuchte, sie zu trösten. Da brach das Schluchzen aus ihr hervor, und sie zitterte am ganzen Körper. Die Klänge des Jingles kündigten die Abendnachrichten im Fernsehen an. Eine Suchmeldung der Polizei wurde durchgegeben: Gesucht wurde ein Mann um die vierzig; dieser Bekanntmachung folgte eine kurze Beschreibung. Sigurður Óli blickte hoch und sah plötzlich eine Frau in einem Supermarkt vor sich, die eine Schachtel mit frischen Erdbeeren in der Hand hielt.
Siebenunddreißig
Als der Winter mit eisigem Nordwind und Schneetreiben hereingebrochen war, fuhr Erlendur eines Tages zum Kleifarvatn, wo im Frühling Emíls sterbliche Überreste gefunden worden waren. Es war vormittags, und außer ihm war kaum jemand unterwegs. Erlendur stellte seinen Ford Falcon am Wegrand ab und ging zum Seeufer. In der Zeitung hatte er gelesen, dass jetzt kein Wasser mehr aus dem See ablief und er sich wieder vergrößerte. Die Experten beim Energieforschungsinstitut prophezeiten, dass er wieder seine frühere Größe erreichen würde. Erlendur ließ seine Blicke über den roten Lehmgrund von Lambhagatjörn und zu den Bergketten auf beiden Seiten des Sees schweifen. Es mutete ihn immer noch seltsam an, dass dieser friedliche See einmal der Schauplatz für einen Spionagefall auf Island gewesen war.
Er sah, wie der Nordwind die Wasseroberfläche kräuselte, und überlegte im Stillen, dass hier alles wieder wie früher sein würde. Vielleicht hatte die Vorsehung eingegriffen.
Vielleicht hatte sich der See nur geleert, damit ein altes Verbrechen aufgeklärt werden konnte. Bald würde er wieder unergründlich und kalt über der Stelle liegen, an der das Skelett geruht und eine Geschichte von Liebe und Verrat in einem fernen Land bewahrt hatte.
Mehr als einmal hatte er Tómas’ Aufzeichnungen gelesen, die dieser niedergeschrieben hatte, bevor er sich das Leben nahm. Er las von Lothar und Emíl und den isländischen Studenten und dem System, das sich ihnen offenbarte, unmenschlich und unbegreiflich, zum Scheitern verurteilt.
Er las Tómas’ Erinnerungen an Ilona und ihr kurzes Zusammensein, an seine Liebe zu ihr und zu dem Kind, das sie unter dem Herzen trug und das er nie kennen gelernt hatte. Er verspürte tiefes Mitleid mit diesem Mann, den er nie getroffen, sondern nur in seinem Blute vorgefunden hatte, mit einer alten Pistole neben sich. Vielleicht war es die einzige Lösung für Tómas gewesen.
Es stellte sich heraus, dass niemand Emíl vermisste, außer der Frau, die ihn unter dem Namen Leopold kannte. Emíl war Einzelkind gewesen und hatte nur wenige Verwandte.
Er hatte bis Mitte der siebziger Jahre eine sporadische Korrespondenz mit einem Onkel geführt, dem er aus Leipzig schrieb. Der Onkel hatte Emíls Existenz beinahe vergessen, als Erlendur ihn aufsuchte, um mehr über Emíl zu erfahren.
Die amerikanische Botschaft hatte ein Foto von Lothar aufgetrieben aus der Zeit, als er Wirtschaftsreferent in Norwegen war. Emíls Verlobte konnte sich nicht erinnern, diesen Mann jemals gesehen zu haben. Auch die deutsche Botschaft hatte alte Fotos von ihm ausfindig gemacht. Es stellte sich heraus, dass er verdächtigt worden war, ein Doppelagent zu sein, und dass er wahrscheinlich irgendwann vor 1978 in einem Dresdener Gefängnis umgekommen war.
»Er kommt wieder«, sagte eine Stimme hinter ihm, und er drehte sich um. Eine Frau, die ihm bekannt vorkam, lächelte ihn an. Sie trug einen dicken Anorak und eine Mütze.
»Entschuldigung?«
»Sunna«, sagte sie, »ich bin die Hydrologin, die damals die Knochen gefunden hat, du erinnerst dich vielleicht nicht mehr an mich.«
»Doch, jetzt erinnere ich mich.«