Выбрать главу

Sie rieb sich nervös die Hände.

»Manchmal glaube ich sogar heute noch, dass er noch am Leben sein könnte. Dass er keinesfalls gestorben ist. Manchmal glaube ich, dass er uns verlassen hat und vielleicht aufs Land oder ins Ausland gezogen ist, ohne uns Bescheid zu geben, und dass er vielleicht eine neue Familie gegründet hat. Mir kam es sogar einmal so vor, als hätte ich ihn hier in Reykjavik gesehen. Vor vier oder fünf Jahren habe ich zuletzt das Gefühl gehabt, ich hätte ihn gesehen. Ich bin wie ein Idiot hinter dem Mann her. Das war im Kringlan-Einkaufszentrum. Ich habe ihm so lange nachspioniert, bis ich merkte, dass er es nicht war.« Sie sah Erlendur an.

»Er ist verschwunden, aber trotzdem … verschwindet er eigentlich nie«, sagte sie, und ein trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Ich weiß«, sagte Erlendur. »Ich weiß, was du meinst.«

Als sie wieder im Auto saßen, machte Elínborg ihm Vorwürfe, weil er so taktlos gewesen war, nach Kristins Sohn zu fragen. Erlendur entgegnete ihr, sie solle nicht so empfindlich sein.

Sein Handy klingelte. Es war Valgerður. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich melden würde. Sie arbeitete als MTA am größten isländischen Krankenhaus, und sie hatten sich letztes Jahr zu Weihnachten kennen gelernt, als Erlendur einen Mordfall in einem Reykjaviker Hotel aufzuklären hatte.

Ihre Beziehung war kompliziert. Valgerður war verheiratet.

Ihr Mann hatte zugegeben, fremdgegangen zu sein, aber als es darum ging, sich scheiden zu lassen, wollte er sie nicht freigeben, sondern bat reumütig um Verzeihung und gelobte Besserung. Sie hatte vor, ihn zu verlassen, aber das war noch nicht geschehen.

»Wie geht es deiner Tochter?«, fragte sie, und Erlendur erzählte ihr kurz von seinem Besuch bei Eva Lind.

»Glaubst du wirklich nicht, dass ihr diese Therapie hilft?«, fragte Valgerður.

»Ich hoffe es, aber im Grunde genommen habe ich keine Ahnung, was ihr helfen kann«, sagte Erlendur. »Sie ist wieder in derselben Scheiße gelandet wie damals, bevor sie die Fehlgeburt hatte.«

»Sollen wir uns vielleicht morgen treffen?«, fragte Valgerður.

»Ja, treffen wir uns morgen«, sagte er, und sie verabschiedeten sich.

»War sie das?«, fragte Elínborg, die wusste, dass Erlendur eine Art Beziehung zu einer Frau hatte.

»Falls du Valgerður meinst, jawohl, das war sie«, sagte Erlendur.

»Macht sie sich Sorgen um Eva Lind?«

»Was haben die Leute von der Technik über diesen Apparat gesagt?«, fragte Erlendur, um das Thema zu wechseln.

»Viel wissen sie nicht«, antwortete Elínborg. »Sie glauben aber, dass es ein russisches Gerät ist. Man hat zwar versucht, den Namen und die Registriernummer wegzufeilen, aber man kann immer noch den einen oder anderen Buchstaben erkennen, und sie sagen, dass es kyrillische Buchstaben sind.«

»Also Russisch?«

»Ja, Russisch.«

Am Südende des Sees standen ein paar Anglerhütten. Erlendur und Sigurður Óli zogen Erkundigungen über die Eigentümer ein. Sie setzten sich telefonisch mit ihnen in Verbindung und stellten ihnen ein paar Fragen über vermisste Personen, die eventuell in Verbindung zum Fund im See standen. Das zeitigte keinen Erfolg.

Sigurður Óli brachte das Thema auf Elínborg, die vollauf damit beschäftigt war, das Erscheinen ihres Kochbuchs vorzubereiten.

»Wahrscheinlich glaubt sie jetzt, dass sie berühmt wird«, sagte Sigurður Óli.

»Möchte sie das?«, fragte Erlendur.

»Will nicht jeder berühmt werden?«, war die Gegenfrage von Sigurður Óli.

»Dummes Zeug«, erklärte Erlendur.

Sechs

Sigurður Óli las den Brief- die letzten Worte eines jungen Mannes, der im Jahre 1970 sein Zuhause verließ, um nie wieder zurückzukehren.

Die Eltern des Mannes waren beide im gleichen Alter, achtundsiebzig, und bei guter Gesundheit. Sie hatten noch zwei jüngere Söhne, die um die fünfzig waren. Sie waren sich sicher, dass der älteste Sohn Selbstmord begangen hatte, denn sie nahmen ernst, was in seinem Brief stand.

Sie wussten weder, wie er es getan hatte, noch, wo seine sterblichen Überreste zu finden waren. Sigurður Óli hatte sie nach Kleifarvatn gefragt, nach dem Sendegerät und dem Loch im Schädel, aber sie hatten keine Ahnung, wovon er sprach. Ihr Sohn hatte sich nie mit irgendjemandem angelegt und hatte keine Feinde, so etwas war undenkbar.

»Es ist völlig ausgeschlossen, dass er ermordet wurde«, sagte die Frau und schaute ihren Mann an, immer noch voller Trauer über das Schicksal ihres Sohnes, der vor so vielen Jahren verschwunden war.

»Das steht doch hier in dem Brief«, sagte der Mann. »Es ist ganz offensichtlich, was er vorhatte.« Sigurður Óli las den Brief noch einmal.

Lieber Papa, liebe Mama, verzeiht mir, aber ich kann nicht anders es ist unerträglich und ich kann mir nicht vorstellen zu leben, das kann ich nicht will ich nicht und kann es nicht.

Der Brief war mit Jakob unterzeichnet.

»Dieses Mädel war schuld daran«, sagte die Frau.

»Das wissen wir gar nicht«, warf der Mann ein.

»Sie war auf einmal mit seinem Freund zusammen«, fuhr die Frau fort. »Das hat unser Junge nicht verkraftet.«

»Glaubt ihr, dass es unser Sohn sein könnte?«, fragte der Mann. Sie saßen Sigurður Óli gegenüber auf dem Sofa und warteten darauf, dass Fragen beantwortet wurden, die sie seit dem Verschwinden ihres Sohnes bedrängt hatten. Sie wussten, dass er die schwierigsten nicht beantworten konnte, die ihnen all diese Jahre auf der Seele gelegen hatten, die mit dem Verhalten und der Verantwortung der Eltern zusammenhingen, aber er konnte ihnen sagen, ob der Sohn gefunden worden war. In den Nachrichten hatte es lediglich geheißen, dass man das Skelett eines Mannes im Kleifarvatn gefunden hatte. Das Sendegerät oder das Loch im Schädel waren nicht erwähnt worden. Sie begriffen nicht, worauf Sigurður Óli hinauswollte, als er seine Fragen in diese Richtung lenkte. Sie wollten nur eine Antwort auf die eine Frage: War er das?

»Ich gehe davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit äußerst gering ist«, erklärte Sigurður Óli. Er blickte von einem Ehepartner zum anderen. Das unbegreifliche Verschwinden und der Tod eines geliebten Menschen hatten ihr ganzes Leben überschattet. Die Sache hatte nie ein Ende gefunden.

Ihr Sohn war immer noch nicht nach Hause gekommen, und so war es die ganzen Jahre über gewesen. Sie wussten nicht, wo er sich befand und was ihm widerfahren war, und diese Ungewissheit war von Trauer und Schwermut begleitet.

»Wir glauben, dass er ins Meer gegangen ist«, sagte die Frau.

»Er war ein guter Schwimmer. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass er einfach hinausgeschwommen ist, bis er wusste, dass er zu weit geschwommen war, oder bis die Kälte ihn überwältigt hat.«

»Die Polizei hat uns seinerzeit gesagt, dass er wahrscheinlich ins Meer gegangen ist, weil die Leiche nicht gefunden wurde«, sagte der Mann.

»Wegen diesem Weibsbild«, sagte die Frau.

»Wir können ihr nicht die Schuld daran geben«, sagte der Mann.

Sigurður Óli merkte, dass die beiden in gewohntem Fahrwasser waren. Er stand auf, um sich zu verabschieden.

»Manchmal kriege ich so eine Wut auf ihn«, sagte die Frau, und Sigurður Óli war nicht klar, ob sie ihren Ehemann meinte oder ihren Sohn.

Valgerður erwartete Erlendur im Restaurant, sie trug dieselbe Lederjacke wie bei ihrer ersten Verabredung. Ihre Wege hatten sich zufällig gekreuzt, und Erlendur hatte sie in einem Anfall von Impulsivität zum Essen eingeladen, ohne zu wissen, ob sie verheiratet war und eine Familie hatte. Es stellte sich heraus, dass sie zwar mit einem Ehemann unter einem Dach lebte, aber die Beziehung hatte Risse bekommen, und die beiden Söhne waren aus dem Haus. Als sie sich das nächste Mal trafen, gab sie Erlendur gegenüber zu, dass es ihre Absicht gewesen war, ihn zu benutzen, um sich an ihrem Mann zu rächen.