Fast unbewusst ließ sich Octavian von seinen Schritten in die Richtung des Hauses seiner Mutter führen. Wenn er nur die Nacht dort verbringen konnte, würde er am Morgen zu Tabbic gehen und in einem oder zwei Tagen wieder auf dem Landgut sein. Dann war Tubruk bestimmt zufrieden mit ihm. Er dachte daran, wie seine Mutter wahrscheinlich reagieren würde, und zuckte zusammen. Sie würde das Schwert sofort entdecken und bestimmt denken, er hätte es gestohlen. Für eine Mutter war sie nicht sehr vertrauensvoll, das musste er sich leider eingestehen. Sie glaubte ihm nichts, selbst wenn er die Wahrheit sagte, und das machte ihn immer besonders wütend.
Vielleicht sollte er versuchen, Alexandria ein Zeichen zu geben, sie nach draußen zu locken, ohne den Rest des Hauses zu stören. Sie verstand bestimmt besser als seine Mutter, was er tun musste.
Er trottete durch die nächtliche Menge, wich den Straßenhändlern aus und widerstand der Versuchung, nach dem warmen Essen zu greifen, das die Luft mit verführerischen Düften erfüllte. Er war am Verhungern, doch das bohrende Gefühl in seinem Magen kam erst an zweiter Stelle – nach dem Bedürfnis, mit Tubruk wieder alles ins Reine zu bringen. Sich von einem aufgebrachten Budenbesitzer schnappen zu lassen, würde alles genauso verderben wie eine Unterhaltung mit seiner Mutter.
»Das ist ja die Ratte!«
Der Ausruf riss ihn urplötzlich aus seinen trübseligen Gedanken. Er sah auf und starrte in die erstaunten Augen des Schlachterlehrlings. Panik flackerte in ihm auf. Er sprang auf die Straße, um den von hinten nach ihm greifenden Händen zu entkommen. Sie waren alle da! Verzweifelt riss er die Decke zurück und legte die Hand um den Griff von Tubruks Gladius. Gerade als der Junge des Schlachters sich auf ihn stürzen wollte, riss er die Klinge hoch. Ein wilder Hieb hätte beinahe die in begieriger Vorfreude ausgestreckten Finger erwischt, und der Lehrling stieß einen erstaunten Fluch aus.
»Dafür bring ich dich um, du kleiner Drecksack aus Thurin. Ich hab mich schon gewundert, wo du steckst. Jetzt hast du dich wohl aufs Schwerterklauen verlegt, was?«
Octavian sah, dass die anderen zusammenrückten, um ihm den Fluchtweg zu versperren, während der Junge ihn anknurrte. In wenigen Augenblicken war er umzingelt, und die geschäftige Menge schob sich um sie herum, ohne seine missliche Lage zu bemerken, oder zu ängstlich, um sich einzumischen.
Octavian hielt das Schwert in der ersten Position, so wie Tubruk es ihm beigebracht hatte. Er konnte nicht weglaufen, also schwor er sich, wenigstens einen guten Treffer zu landen, bevor sie sich auf ihn stürzten.
Der Schlachterjunge lachte, als er erneut näher kam. »Jetzt bist du nicht mehr so vorwitzig, was, du kleine Ratte?«
Er kam Octavian riesengroß vor. Das Schwert in seiner Hand fühlte sich nutzlos an. Der Bursche streckte die Hand aus, um einen plötzlichen Angriff zur Seite zu schlagen, sein Gesicht leuchtete vor unbeherrschter Erregung.
»Gib es mir, dann lass ich dich am Leben«, sagte er grinsend.
Bei dieser Drohung schlossen sich Octavians Finger nur noch fester um den Griff. Er versuchte sich daran zu erinnern, was Tubruk an seiner Stelle getan hätte. Als der Lehrling in Reichweite seiner schwankenden Klinge trat, fiel es ihm wieder ein.
Mit einem gellenden Schrei ging er zum Angriff über und zog die Klinge über die ausgestreckte Hand. Wäre sie scharf gewesen, hätte er den Jungen vielleicht zum Krüppel machen können. So hingegen heulte dieser nur auf, tänzelte nach hinten außer Reichweite und umklammerte die verletzte Hand mit der anderen.
»Lasst mich in Ruhe!«, schrie Octavian und hielt nach einer Lücke Ausschau, durch die er sich davonmachen konnte.
Es gab keine. Der Schlachterjunge untersuchte seine zerschnittene Hand. Dann verzog sich sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze. Er griff nach hinten, zog ein schweres Messer aus dem Gürtel und zeigte es Octavian. Es war vom Blut seines Gewerbes ganz rostig, und Octavian konnte seinen Blick kaum davon losreißen.
»Ich schneide dich in Stücke, du Ratte. Ich steche dir die Augen aus und lasse dich blind liegen«, fauchte ihn der Ältere an.
Octavian versuchte zu fliehen, doch statt ihn festzuhalten lachten die anderen Lehrjungen nur und stießen ihn wieder auf den Schlachterburschen zu. Wieder hob er das Schwert, doch dann ragte ein Schatten über den Lehrlingen auf, und eine kräftige Hand knallte hörbar gegen den Kopf des Schlachterjungen, der daraufhin zu Boden fiel.
Tubruk bückte sich und hob das Messer auf. Der Fleischerbursche wollte aufstehen, doch Tubruk schloss die Faust und streckte ihn mit einem Hieb in den Straßendreck, wo er halb benommen herumscharrte.
»Hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages gegen Kinder kämpfen muss«, murmelte Tubruk. »Alles in Ordnung?« Octavian starrte ihn mit vor Staunen offenem Mund an. »Ich suche schon seit Stunden nach dir.«
»Ich wollte… das Schwert zu Tabbic bringen. Ich hab’s nicht gestohlen«, antwortete Octavian, der wieder spürte, dass ihm die Tränen in die Augen zu steigen drohten.
»Ich weiß, mein Junge. Clodia hat sich gedacht, dass du zu ihm willst. Gut, dass ich dich rechtzeitig gefunden habe, oder?«
Der alte Gladiator warf einen Blick auf die Lehrlinge, die immer noch unsicher im Kreis um sie herumstanden und nicht wussten, ob sie bleiben oder weglaufen sollten.
»An eurer Stelle, Jungs, würde ich das Weite suchen, bevor ich die Geduld verliere«, sagte er. Sein Gesichtsausdruck verdeutlichte ihnen, dass er es ernst meinte, woraufhin sie sich, ohne weitere Zeit zu verlieren, aus dem Staub machten.
»Ich lasse das Schwert zu Tabbic bringen, einverstanden? Kommst du jetzt wieder mit oder nicht?«
Octavian nickte. Tubruk drehte sich um und marschierte durch die Menge zum Stadttor zurück. Bis sie auf dem Gut ankamen, würde schon fast der Morgen grauen, doch er wusste, dass er ohnehin nicht geschlafen hätte, wäre Octavian nicht wieder aufgetaucht. Trotz all seiner Fehler mochte er den Jungen.
»Warte, Tubruk. Nur einen Augenblick«, rief Octavian.
Tubruk drehte sich mürrisch um. »Was ist denn jetzt noch?«
Octavian ging zu dem übel zugerichteten Lehrburschen und trat ihm mit voller Wucht ins Gemächt. Tubruk zuckte mitfühlend zusammen.
»Bei den Göttern, du musst noch viel lernen! Das tut man nicht, wenn ein Mann bereits am Boden liegt.«
»Vielleicht nicht, aber das war ich ihm noch schuldig.«
Tubruk entließ die Luft aus den aufgeblasenen Wangen, und Octavian trottete neben ihm her.
»Vielleicht hast du Recht, mein Junge.«
Brutus konnte nicht glauben, was ihm geschah. Der Mann war schier übermenschlich. Er hatte nicht mehr genug Luft für Neckereien, und um ein Haar hätte er den Kampf in den ersten Sekunden verloren, als Domitius mit einer Geschwindigkeit zugeschlagen hatte, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Sein Zorn hatte seine Reflexe angespornt, so dass er die Attacke abwehren konnte, doch das Krachen abgeblockter Schläge ertönte mit einer erbarmungslosen Ausdauer, die er nicht für möglich gehalten hätte. Der andere schien nicht einmal Luft holen zu müssen. Die Schläge prasselten ohne Unterlass auf ihn ein, aus allen Richtungen, und zweimal hätte Brutus fast sein Schwert verloren, als er am Arm getroffen wurde. Bei einem richtigen Zweikampf hätte das wahrscheinlich das Ende des Duells bedeutet, aber bei den Übungskämpfen musste es ein eindeutig tödlicher Hieb sein, besonders wenn Geld im Spiel war.
Brutus hatte ein wenig an Boden gewonnen, nachdem er den fließenden Stil gefunden hatte, den er von einem Stammeskrieger in Griechenland gelernt hatte. Wie gehofft hatten die unterschiedlichen Rhythmen Domitius’ Angriff aus dem Gleichgewicht gebracht, und er hatte den Unterarm des Mannes mit einem Hieb getroffen, der ihm bei einer echten Klinge die Hand am Gelenk abgetrennt hätte.