«Aber … mein Gott, Klara …»
«Was ist, Lieber?»
«Der ist ja noch schwächlicher als Otto!»
Der Arzt trat hastig ein paar Schritte vor. «Dem Kind fehlt nichts, gar nichts.»
Langsam richtete sich der Mann auf, wandte den Kopf und sah den Arzt an. Er machte einen verwirrten, ratlosen Eindruck. «Mir brauchen Sie nichts vorzulügen, Herr Doktor», sagte er. «Ich weiß Bescheid. Mit dem wird’s wieder genauso gehen.»
«Jetzt hören Sie mal zu …», begann der Arzt.
«Ja, wissen Sie denn nicht, was mit den anderen passiert ist?»
«Denken Sie nicht mehr an die anderen, Herr Hitler. Sie müssen zuversichtlich sein.»
«Aber so klein und schwächlich …!»
«Mein lieber Herr, es handelt sich um ein Neugeborenes.»
«Trotzdem …»
«Was soll denn das heißen?», empörte sich die Wirtin. «Wollen Sie ihn etwa ins Grab reden?»
«Genug!», sagte der Arzt scharf.
Die Mutter weinte. Heftiges Schluchzen schüttelte ihren Körper.
Der Arzt trat zu dem Mann und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Seien Sie gut zu ihr», flüsterte er. «Bitte. Es ist sehr wichtig.» Er schob ihn mit einem kräftigen Druck auf die Schulter unauffällig an das Bett heran. Der Mann zögerte. Der Arzt drückte stärker, gab ihm mit Fingern und Daumen zu verstehen, was er von ihm erwartete. Schließlich beugte sich der Mann widerstrebend über seine Frau und küsste sie leicht auf die Wange.
«Schon gut, Klara», sagte er. «Hör auf zu weinen.»
«Ich habe so innig gebetet, dass er am Leben bleibt, Alois.»
«Ja.»
«Monatelang bin ich Tag für Tag in die Kirche gegangen und habe die Heilige Jungfrau auf den Knien angefleht, dass sie mir dieses Kind am Leben erhält.»
«Ja, Klara, ich weiß.»
«Drei tote Kinder – mehr kann ich nicht ertragen, verstehst du?»
«Natürlich.»
«Er muss leben, Alois. Er muss, er muss … O Gott, hab Erbarmen mit ihm …»
Edward der Eroberer
Mit einem Geschirrtuch in der Hand trat Louisa aus der Küchentür an der Rückseite des Hauses in den kühlen Oktobersonnenschein hinaus.
«Edward!», rief sie. «Ed-ward! Das Essen ist fertig!» Sie wartete einen Augenblick und lauschte; dann überquerte sie, von einem kleinen Schatten begleitet, den Rasen. Als sie an dem Rosenbeet vorbeikam, strich sie leicht mit dem Finger über die Sonnenuhr. Für eine kleine, untersetzte Frau bewegte sie sich recht anmutig, schritt mit sanft schwingenden Schultern und Armen elastisch aus. Hinter dem Maulbeerbaum erreichte sie den gepflasterten Weg, auf dem sie weiterging, bis sie in die Senkung am Ende des großen Gartens hinabschauen konnte.
«Edward! Essen!»
Jetzt sah sie ihn dort unten am Waldrand, etwa achtzig Schritte entfernt – eine hochgewachsene, schmale Gestalt in Khakihosen und dunkelgrünem Sweater. Er stand neben einem lodernden Feuer und warf mit der Forke Brombeerranken hinein. Der milchige Rauch, der in Wolken aus den orangefarbenen Flammen quoll und über den Garten hinwegtrieb, verbreitete einen herrlichen Geruch nach Herbst und brennendem Laub.
Louisa lief den Abhang hinunter auf ihren Mann zu. Natürlich hätte sie nur noch einmal zu rufen brauchen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber das schöne Feuer zog sie an, lockte sie, dicht heranzutreten, damit sie die Hitze fühlen und das Knistern hören könnte.
«Das Essen ist fertig», sagte sie beim Näherkommen.
«Oh, hallo. Ja, gut – ich komme.»
«Das ist aber ein prächtiges Feuer.»
«Ich habe mir vorgenommen, hier gründlich Ordnung zu schaffen», erklärte der Mann. «Dieses Brombeergestrüpp ist eine schreckliche Plage.» Sein langes Gesicht war nass von Schweiß. An dem Schnurrbart hingen kleine Tropfen wie Tau, und zwei schmale Bäche rannen den Hals hinab auf den Rollkragen des Sweaters.
«Gib nur acht, dass du dich nicht überanstrengst, Edward.»
«Ich wollte, Louisa, du würdest mich nicht immer wie einen Achtzigjährigen behandeln. Ein bisschen Bewegung hat noch niemand geschadet.»
«Ja, Lieber, ich weiß. Ach, Edward, sieh mal – sieh!»
Der Mann drehte sich erstaunt nach Louisa um, die auf die andere Seite des Feuers deutete.
«Da drüben, Edward! Die Katze!»
Auf der Erde, so dicht am Feuer, dass die Flammen sie manchmal zu streifen schienen, saß eine große Katze von sehr ungewöhnlicher Farbe. Ganz still saß sie, den Kopf schräg gelegt, die Nase in der Luft, und beobachtete mit kühlen gelben Augen den Mann und die Frau.
«Sie wird sich verbrennen!» Louisa ließ das Geschirrtuch fallen, sprang rasch auf die Katze zu, packte sie mit beiden Händen, riss sie weg und setzte sie in sicherer Entfernung von den Flammen ins Gras.
«Was ist denn mit dir los, du närrisches Tier?», sagte sie, während sie sich die Hände abwischte.
«Katzen wissen, was sie tun», bemerkte der Mann. «Die tun nichts, was sie nicht wollen. Niemals.»
«Wem gehört sie? Hast du sie schon mal gesehen?»
«Bestimmt nicht. Hat eine eigenartige Farbe.»
Die Katze saß jetzt im Gras und schaute die beiden von der Seite an. Sie hatte einen verschleierten, nach innen gekehrten Ausdruck in den Augen, der ihr etwas seltsam Allwissendes und Nachdenkliches gab, und um die Nase lag ein kaum wahrnehmbarer verächtlicher Zug, als sei der Anblick dieser beiden Personen mittleren Alters – die eine klein, untersetzt und rosig, die andere mager und sehr verschwitzt – zwar einigermaßen überraschend, im Grunde aber sehr unwichtig. Für eine Katze war ihre Farbe tatsächlich recht eigenartig – ein reines Silbergrau ohne jede Spur von Blau –, und sie hatte überaus lange seidige Haare.
Louisa bückte sich und streichelte ihr den Kopf. «Du musst jetzt heimgehen», sagte sie. «Sei ein braves Tier, lauf zu deinem Frauchen.»
Die Eheleute stiegen den Abhang hinauf, um in ihr Haus zurückzukehren. Die Katze erhob sich und folgte ihnen. Anfangs hielt sie sich in einigem Abstand, allmählich aber kam sie näher und näher. Bald war sie neben den beiden, dann lief sie vor ihnen her über den Rasen, mit einem Gang, als gehöre ihr hier alles. Ihr Schwanz ragte wie ein Mast steil in die Luft.
«Fort mit dir», rief der Mann. «Los, verschwinde. Wir wollen dich nicht haben.»
Doch die Katze schlüpfte hinter ihnen ins Haus, und Louisa gab ihr in der Küche etwas Milch. Als das Essen aufgetragen war, sprang das Tier auf den freien Stuhl zwischen dem Ehepaar, blieb während der Mahlzeit dort sitzen, mit dem Kopf gerade in Tischhöhe, und beobachtete alles, was vorging, mit seinen dunkelgelben Augen, die es langsam von der Frau zu dem Mann und wieder zurück wandern ließ.
«Die Katze gefällt mir nicht», sagte Edward.
«Ach, ich finde sie wunderschön. Hoffentlich bleibt sie ein Weilchen bei uns.»
«Also hör mal, Louisa, hier bleiben kann das Tier unmöglich. Es gehört jemand anders. Es ist weggelaufen. Und wenn es sich nachmittags immer noch hier herumtreibt, bringst du es am besten zur Polizei. Dort wird man schon den Besitzer ermitteln.»
Nach dem Essen ging Edward in den Garten zurück. Louisa beschloss, sich wie gewöhnlich ans Klavier zu setzen. Sie liebte Musik über alles, war eine ausgezeichnete Pianistin und verwendete fast täglich eine Stunde darauf, für sich allein zu spielen. Die Katze lag auf dem Sofa. Louisa blieb einen Augenblick bei ihr stehen und streichelte sie. Das Tier öffnete kurz die Augen, schloss sie dann wieder und schlief weiter. «Du bist eine sehr liebe Katze», sagte Louisa. «Und du hast eine so schöne Farbe. Ich wollte, ich könnte dich behalten.» Als sie über ihr Fell strich, fühlte sie am Kopf, dicht über dem rechten Auge, eine kleine Erhebung, eine Art Höcker. «Arme Katze», murmelte sie, «du hast ja Beulen auf deiner schönen Stirn. Jung scheinst du nicht mehr zu sein.»