«Ach was, das Tier liebt den Lärm, das ist alles.»
«Nicht den Lärm, sondern die Musik. Habe ich nicht recht, Liebling?», fragte sie und nahm die Katze auf den Arm. «Ach, wenn er doch nur reden könnte. Stell dir vor, Edward – in seiner Jugend hat er Beethoven gekannt. Und Schubert und Mendelssohn und Schumann und Berlioz und Grieg und Delacroix und Ingres und Heine und Balzac. Und … ja, warte … er war Wagners Schwiegervater! Mein Gott, ich halte Wagners Schwiegervater in meinen Armen!»
«Louisa!», sagte der Mann scharf und richtete sich kerzengerade auf. «Nimm dich zusammen.» Seine Stimme hatte plötzlich einen anderen Klang, und er sprach ungewöhnlich laut.
Louisa warf ihm einen raschen Blick zu. «Edward, ich glaube, du bist eifersüchtig.»
«Auf eine lausige graue Katze? Dass ich nicht lache!»
«Dann sei gefälligst nicht so mürrisch und zynisch. Wenn du dich so benehmen willst, geh lieber an deine Gartenarbeit zurück und lass uns beide in Frieden. Das wäre für uns alle das Beste, nicht wahr, Liebling?», sagte sie zu der Katze und streichelte ihr den Kopf. «Und heute Abend werden du und ich noch ein wenig musizieren, natürlich aus deinen eigenen Werken. Ach ja» – sie küsste das Tier mehrmals auf den Nacken –, «vielleicht spielen wir dann auch etwas von Chopin. Du brauchst mir gar nichts zu sagen – ich weiß, dass du Chopin gern hast. Du warst sehr befreundet mit ihm, nicht wahr, Herzchen? Wenn ich mich recht erinnere, bist du sogar in Chopins Wohnung der großen Liebe deines Lebens, dieser Madame Soundso, begegnet. Drei uneheliche Kinder hatte sie von dir, wie? Jawohl, so war es, du unartiges Ding, versuche nur nicht, es abzustreiten. Nun, du sollst nachher ein bisschen Chopin hören», schloss sie und küsste die Katze von neuem. «Das wird vermutlich allerlei schöne Erinnerungen in dir wecken.»
«Louisa, jetzt ist aber Schluss!»
«Reg dich doch nicht auf, Edward.»
«Du benimmst dich absolut idiotisch. Außerdem vergisst du, dass wir heute unseren Canasta-Abend bei Bill und Betty haben.»
«Nein, heute kann ich unmöglich ausgehen. Das ist ganz ausgeschlossen.»
Edward erhob sich langsam aus seinem Sessel, beugte sich vor und stieß die Zigarette hart in den Aschenbecher. «Sag mal», fragte er ruhig, «glaubst du das wirklich – diesen Quatsch, den du da redest?»
«Aber natürlich. Da kann’s doch gar keinen Zweifel mehr geben. Und ich finde, es lädt uns eine enorme Verantwortung auf, Edward – uns beiden. Dir ebenso wie mir.»
«Und weißt du, was ich finde?», versetzte er. «Ich finde, du solltest zum Doktor gehen, und zwar schleunigst.»
Wütend drehte er sich um und stapfte durch die Verandatür in den Garten hinaus.
Louisa sah ihm nach, während er über den Rasen zu seinem Feuer und seinem Brombeergestrüpp ging. Sie wartete, bis er außer Sicht war, machte dann kehrt und lief, noch immer mit der Katze im Arm, zur Haustür.
Gleich darauf saß sie im Wagen und fuhr in die Stadt.
Sie parkte vor der Bibliothek, schloss die Katze im Wagen ein, eilte die Stufen zu dem Gebäude hinauf und steuerte geradewegs auf das Katalogzimmer zu. Dort suchte sie im Schlagwortkatalog nach Büchern über zwei Themen: Seelenwanderung und Liszt.
Unter Seelenwanderung fand sie ein Werk mit dem Titel Wiederkehr des Erdenlebens – Wie und Warum, das von einem Mann namens F. Milton Willis verfasst und im Jahre 1921 erschienen war. Unter Liszt waren zwei Biographien aufgeführt. Sie entlieh alle drei Bände, kehrte zu ihrem Wagen zurück und fuhr nach Hause.
Daheim setzte sie sich mit den drei Büchern und der Katze aufs Sofa, fest entschlossen, ernsthafte Studien zu betreiben. Als Erstes wollte sie das Buch von Mr. F. Milton Willis vornehmen. Der Band war dünn und etwas beschmutzt, aber er lag gewichtig in ihrer Hand, und der Name des Verfassers klang irgendwie vertrauenerweckend.
‹Die Lehre von der Seelenwanderung›, las sie, ‹weist nach, dass sich geistige Seelen von Mal zu Mal in höheren Tierformen verkörpern. Ein Mensch kann zum Beispiel ebenso wenig als Tier wiedergeboren werden wie ein Erwachsener wieder zum Kind werden.›
Sie las den letzten Satz noch einmal. Woher wusste er das? So etwas konnte doch niemand mit Gewissheit behaupten. Trotz ihrer Skepsis nahm ihr jedoch diese Feststellung ziemlich viel Wind aus den Segeln.
‹Um unser Bewusstseinszentrum herum befinden sich vier Körper, wobei der feste äußere Körper nicht mitgerechnet ist. Sie sind für unser fleischliches Auge unsichtbar, jedoch vollständig sichtbar für alle diejenigen, deren Fähigkeit, übernatürliche Dinge wahrzunehmen, angemessen entwickelt ist …›
Damit konnte Louisa nichts anfangen, aber sie las weiter und kam bald an eine interessante Stelle, die davon handelte, wie lange eine Seele im Allgemeinen von der Erde entfernt blieb, bevor sie in einen anderen Körper zurückkehrte. Dieses Zwischenstadium war je nach dem Typus kürzer oder länger, und Mr. Willis gab folgende Übersicht:
Trunkenbolde und Taugenichtse
40 – 50 Jahre
Ungelernte Arbeiter
60 – 100 Jahre
Facharbeiter
100 – 200 Jahre
Die Bourgeoisie
200 – 300 Jahre
Der gehobene Mittelstand
500 Jahre
Die oberste Klasse der Gutsbesitzer
600 – 1000 Jahre
Die auf dem Wege zur Erkenntnis Befindlichen
1500 – 2000 Jahre
Rasch griff Louisa nach einem der anderen Bücher, um festzustellen, wann Liszt das Zeitliche gesegnet hatte. Sie erfuhr, dass er 1886 in Bayreuth gestorben war. Vor 67 Jahren. Nach Mr. Willis musste er also ungelernter Arbeiter gewesen sein, sonst wäre er nicht so schnell wiedergekommen. Das schien gar nicht zu passen. Louisa hielt überhaupt nicht viel von der Einstufungsmethode des Verfassers. Ihm zufolge umfasste ‹die oberste Klasse der Gutsbesitzer› so ungefähr die höchststehenden Bewohner der Erde. Rote Fräcke, Steigbügeltrunk und das blutige, sadistische Morden von Füchsen … Nein, dachte sie, das kann nicht stimmen. Sie freute sich, dass ihr Zweifel an Mr. Willis kamen.
Weiter hinten im Buch fand sie eine Liste der berühmtesten Wiederverkörperungen. Epiktet, so behauptete Mr. Willis, war als Ralph Waldo Emerson auf die Erde zurückgekehrt, Cicero als Gladstone, Alfred der Große als Königin Viktoria, Wilhelm der Eroberer als Lord Kitchener, Ashoka Vardhana, König von Indien (272 v. Chr.), als Oberst Henry Steel Olcott, ein angesehener amerikanischer Jurist. Pythagoras war als Master Koot Hoomi zurückgekehrt, also als der Herr, der gemeinsam mit Madame Blavatsky und Oberst H. S. Olcott (dem angesehenen amerikanischen Juristen, alias Ashoka Vardhana, König von Indien) die Theosophische Gesellschaft gegründet hatte. Wessen Seele in Madame Blavatsky wiederverkörpert war, stand nicht da. Aber von Theodore Roosevelt hieß es: ‹Er hat in vielen Inkarnationen eine bedeutende Führerrolle gespielt … Von ihm stammte das Königsgeschlecht des alten Chaldäa ab, denn er wurde um 30 000 v. Chr. zum Herrscher über Chaldäa ausersehen, und zwar von dem Ego, das wir als Cäsar kennen und das damals König von Persien war … Roosevelt und Cäsar sind immer wieder als militärische Führer und Regenten zusammengetroffen, und einmal, vor vielen Jahrtausenden, waren sie Mann und Frau …›
Das reichte Louisa. Mr. F. Milton Willis war offensichtlich ein Phantast. Seine dogmatischen Behauptungen beeindruckten sie nicht im Geringsten. Vielleicht befand sich der Bursche auf der richtigen Spur, aber seine Thesen waren viel zu verstiegen, um glaubhaft zu sein, besonders jene erste über die Tiere. Louisa hoffte, es werde ihr bald gelingen, die ganze Theosophische Gesellschaft durch den Nachweis zu verwirren, dass ein Mensch tatsächlich als niederes Tier wiedergeboren werden konnte und dass man kein ungelernter Arbeiter zu sein brauchte, um innerhalb von hundert Jahren zurückzukehren.