«Hände hoch!», riefen sie. «Hände hoch!» Diesem Befehl konnte der Mann jedoch unmöglich folgen, ohne seine Frau loszulassen, und hätte er das getan, so wäre sie entweder auf das Pflaster gestürzt oder teils innerhalb, teils außerhalb des Hauses hängen geblieben, was für eine Frau eine höchst unbequeme Stellung ist. Also fuhr er ritterlich fort, sie hochzustemmen. Die Polizisten, die alle schon Medaillen für das Töten von Verbrechern bekommen hatten, eröffneten sofort das Feuer, und obwohl sie im Laufen schossen und obwohl ihnen die Frau nur ein sehr kleines Ziel bot, brachten sie es fertig, jeden Körper mehrmals zu treffen – was in beiden Fällen tödlich wirkte.
So geschah es, dass der kleine Lexington bereits im Alter von zwölf Tagen Waise wurde.
Die Nachricht von diesem blutigen Zwischenfall, der für die Polizisten einige Verhöre zur Folge hatte, wurde sämtlichen Angehörigen des verstorbenen Ehepaares von eifrigen Zeitungsreportern mitgeteilt, und sofort stiegen die nächsten Verwandten, zwei Leichenbestatter, drei Rechtsanwälte und ein Geistlicher, in Taxis, um sich zu dem Haus mit dem zerbrochenen Fenster zu begeben. Alle, Männer wie Frauen, versammelten sich im Wohnzimmer, saßen im Kreise auf Sofas und Sesseln, rauchten Zigaretten, nippten Sherry und überlegten, was in aller Welt man nun mit dem Baby dort oben, dem Waisenkind Lexington, anfangen sollte.
Wie sich bald herausstellte, hatte keiner der Verwandten besondere Lust, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen, und so dauerten die Diskussionen und Verhandlungen den ganzen Tag an. Jeder erklärte, er habe den dringenden, fast unwiderstehlichen Wunsch, sich um den Kleinen zu kümmern, und würde es auch mit der größten Freude tun, wenn nicht … Entweder war die Wohnung zu klein, oder der Betreffende hatte schon ein Baby und konnte unmöglich noch eines versorgen, oder er hatte keine Ahnung, wo er das Kind während der Sommerreise lassen sollte, oder er befand sich im vorgeschrittenen Alter, was doch für einen heranwachsenden Knaben recht nachteilig war, und so weiter und so fort. Alle wussten natürlich, dass der Vater sehr verschuldet und das Haus mit Hypotheken belastet war, dass man also aus der Sache kein Geld herausschlagen konnte.
Abends um sechs sprachen sie noch immer mit äußerster Lebhaftigkeit aufeinander ein, als plötzlich eine alte Tante des verstorbenen Vaters – ihr Name war Glosspan – aus Virginia hereingefegt kam. Ohne Hut und Mantel abzulegen, ohne sich auch nur hinzusetzen, ignorierte sie alle Angebote von Martini, Whisky und Sherry und verkündete energisch, sie werde von nun an die alleinige Sorge für den kleinen Jungen übernehmen. Außerdem, so erklärte sie, sei sie bereit, sämtliche Kosten für Unterhalt und Ausbildung zu tragen, sodass die anderen mit beruhigtem Gewissen zurückgehen könnten, wohin sie gehörten. Damit eilte sie die Treppe hinauf ins Kinderzimmer, riss Lexington aus seiner Wiege, nahm ihn fest in die Arme und entschwand. Die Verwandten saßen wie die Ölgötzen da – manche glotzten nur, andere lächelten erleichtert –, und McPottle, die Nurse, stand steif und missbilligend auf der obersten Treppenstufe mit zusammengekniffenen Lippen, die Arme über dem gestärkten Busen gekreuzt.
Und so geschah es, dass der kleine Lexington im Alter von dreizehn Tagen die Stadt New York verließ und südwärts fuhr, um bei seiner Großtante Glosspan im Staate Virginia zu leben.
Tante Glosspan ging auf die siebzig zu, als sie Lexingtons Beschützerin wurde, aber niemand, der sie sah, hätte das erraten. Sie war lebhaft wie eine halb so alte Frau, hatte ein schmales, runzliges, aber noch immer schönes Gesicht und zwei allerliebste braune Augen, die einen munter und vergnügt anblitzten. Dass sie eine alte Jungfer war, hätte auch niemand vermutet, denn an Tante Glosspan war nichts Altjüngferliches. Sie war weder verbittert noch mürrisch, noch reizbar, und sie hatte keinen Schnurrbart. Überdies war sie nicht im Geringsten auf andere Leute neidisch, und das findet man selten bei einer alten Jungfer oder einer jungfräulichen Dame, wobei wir natürlich nicht genau wissen, ob Tante Glosspan nur das eine oder auch das andere war.
Auf jeden Fall war sie eine exzentrische alte Frau, das konnte niemand bezweifeln. Seit dreißig Jahren führte sie ein seltsames Einsiedlerleben in einem Häuschen an den Hängen der Blue Ridge Mountains, einige Meilen vom nächsten Dorf entfernt. Sie hatte fünf Morgen Weideland, einen Gemüsegarten, einen Blumengarten, drei Kühe, ein Dutzend Hühner und einen prächtigen Hahn. Und jetzt hatte sie noch den kleinen Lexington.
Als strenge Vegetarierin hielt sie den Genuss von Tierfleisch nicht nur für ungesund und widerwärtig, sondern auch für eine entsetzliche Grausamkeit. Sie aß nur schöne, saubere Nahrungsmittel wie Milch, Butter, Eier, Käse, Gemüse, Nüsse, Kräuter und Obst, und sie war glücklich in dem Bewusstsein, dass ihretwegen keine lebende Kreatur getötet wurde, nicht einmal eine Garnele. Als eine der braunen Hennen in der Blüte ihrer Jahre an Legenot verstarb, war Tante Glosspan so traurig, dass sie um ein Haar das Eieressen aufgegeben hätte.
Von Säuglingen verstand sie nicht das Geringste, aber das machte ihr keine Sorgen. Während sie in New York auf den Zug wartete, der sie und Lexington nach Virginia bringen sollte, kaufte sie sechs Saugflaschen, zwei Dutzend Windeln, eine Schachtel Sicherheitsnadeln, Milch für die Reise und ein broschiertes Büchlein mit dem Titel Kinderpflege. Was brauchte sie mehr? Als sich der Zug in Bewegung setzte, gab sie dem Baby etwas Milch, legte es nach bestem Wissen trocken und bettete es zum Schlafen auf den Sitz. Dann las sie die Kinderpflege von A bis Z durch.
«Das ist kein Problem», sagte sie und warf das Buch aus dem Fenster. «Überhaupt kein Problem.»
Und merkwürdigerweise war es das wirklich nicht. Daheim in dem Landhaus ging alles so glatt wie nur möglich. Der kleine Lexington trank seine Milch, stieß auf, schrie und schlief, kurzum, er tat alles, was man von einem artigen Baby erwartet. Tante Glosspan strahlte vor Freude, sooft sie ihn ansah, und küsste ihn immer wieder ab.
Mit sechs Jahren war Lexington zu einem wunderschönen Jungen mit langem, goldblondem Haar und kornblumenblauen Augen herangewachsen. Er war gescheit und fröhlich und lernte bald, seiner alten Tante auf allerlei Weise in der Wirtschaft zu helfen. So sammelte er zum Beispiel im Hühnerstall die Eier ein, drehte die Kurbel des Butterfasses, grub im Gemüsegarten Kartoffeln aus und suchte am Berghang wilde Kräuter. Tante Glosspan sagte sich, dass sie allmählich an seinen Unterricht denken müsse.
Der Gedanke, ihn in ein Internat zu schicken, war ihr jedoch unerträglich. Sie liebte Lexington jetzt so sehr, dass selbst die kürzeste Trennung ihr Tod gewesen wäre. Natürlich gab es unten im Tal eine Dorfschule, aber die sah schrecklich aus, und sie wusste, dass man ihn dort von Anfang an zwingen würde, Fleisch zu essen.
«Weißt du was, mein Liebling?», sagte sie eines Tages zu ihm, als er in der Küche auf einem Schemel saß und zusah, wie sie Käse bereitete. «Eigentlich könnte ich dich doch sehr gut selbst unterrichten.»
Der Junge blickte mit seinen großen blauen Augen zu ihr auf und lächelte sie vertrauensvoll an. «Das wäre fein», antwortete er.
«Und als Allererstes werde ich dich kochen lehren.»
«Ich glaube, das würde mir Spaß machen, Tante Glosspan.»