«Spaß oder nicht, lernen musst du’s auf jeden Fall», erwiderte sie. «Wir Vegetarier haben nicht so viele Lebensmittel zur Verfügung wie andere Leute, und deswegen müssen wir mit dem, was wir haben, doppelt geschickt umgehen.»
«Tante Glosspan», fragte der Junge, «was essen denn andere Leute und wir nicht?»
«Tiere», sagte sie und schüttelte sich vor Ekel.
«Meinst du lebende Tiere?»
«Nein, tote.»
Der Junge dachte einen Augenblick nach. «Du meinst, die Leute essen die Tiere, wenn sie sterben, statt sie zu begraben?»
«Sie warten nicht, bis sie sterben, mein Schätzchen. Sie töten sie.»
«Wie machen sie das, Tante Glosspan?»
«Meistens schneiden sie ihnen mit einem Messer die Kehle durch.»
«Und was für Tiere töten sie?»
«Hauptsächlich Kühe und Schweine. Auch Schafe.»
«Kühe!», rief der Junge. «Meinst du solche wie Daisy und Schneeglöckchen und Lily?»
«Ganz recht, mein Liebling.»
«Aber wie essen sie sie denn, Tante Glosspan?»
«Sie zerschneiden sie und kochen die Stücke. Am liebsten haben sie es, wenn das Fleisch ganz rot und blutig ist und an den Knochen klebt. Klumpen von Kuhfleisch, aus denen noch das Blut sickert, essen sie besonders gern.»
«Schweine auch?»
«Sie schwärmen für Schweine.»
«Für Klumpen von blutigem Schweinefleisch», murmelte der Junge. «Stell dir das vor. Was essen sie sonst noch, Tante Glosspan?»
«Hühner.»
«Hühner?»
«Millionen davon.»
«Mit Federn und allem?»
«Nein, Liebling. Die Federn nicht. Aber nun lauf hinaus, mein Herzchen, und hole Tante Glosspan ein bisschen Schnittlauch, ja?»
Bald darauf begann der Unterricht. Er umfasste fünf Fächer – Lesen, Schreiben, Geographie, Rechnen und Kochen –, von denen das letzte bei Lehrerin und Schüler das weitaus beliebteste war. Wie sich nach kurzer Zeit herausstellte, wies Lexington in dieser Hinsicht eine wirklich große Begabung auf. Er war flink und geschickt, der geborene Koch. Seine Pfannen handhabte er wie ein Jongleur, und er konnte eine Kartoffel in zwanzig papierdünne Scheiben schneiden, bevor seine Tante eine andere geschält hatte. Sein Gaumen war außerordentlich fein entwickelt, und wenn in einer kräftigen Zwiebelsuppe ein einziges Blättchen Salbei war, dann schmeckte er das sogleich heraus. Bei einem so kleinen Jungen waren diese Fähigkeiten etwas verwirrend, und Tante Glosspan wusste offen gestanden nicht recht, was sie daraus machen sollte. Trotzdem war sie über die Maßen stolz auf das Kind und prophezeite ihm eine glänzende Zukunft.
«Was für ein Segen», sagte sie, «dass ich einen so entzückenden kleinen Gefährten habe, der mir in meinem hohen Alter zur Seite steht.»
Nach ein paar Jahren zog sie sich endgültig aus der Küche zurück und überließ Lexington die Sorge für sämtliche Mahlzeiten. Der Junge war nun zehn Jahre alt und Tante Glosspan fast achtzig.
Als Alleinherrscher in der Küche begann Lexington sofort zu experimentieren. Die alten Lieblingsgerichte interessierten ihn nicht mehr. Ein heftiger Drang zum Schöpferischen beseelte ihn; er hatte Hunderte von neuen Ideen im Kopf. «Ich will damit anfangen, ein Kastaniensoufflé zu erfinden», sagte er, ging an die Arbeit und brachte das Soufflé an demselben Abend auf den Tisch. Es war fabelhaft. «Du bist ein Genie!», rief Tante Glosspan, erhob sich von ihrem Stuhl und küsste ihn auf beide Wangen. «Du wirst Geschichte machen!»
Von nun an verstrich kaum ein Tag, ohne dass er eine leckere neue Schöpfung serviert hätte. Er bereitete Paranuss-Suppe, Maiskotelett, Gemüseragout, Löwenzahnomelette, Käsecremepfannkuchen, gefüllten Kohl, Schalotten à la bonne femme, Mousse piquante von roten Rüben, Stroganoff-Pflaumen, überbackenen Käsetoast, panierte Rübenschnitzel, brennende Tannennadeltorte und viele andere herrliche Gerichte eigener Erfindung. Tante Glosspan erklärte, sie habe nie im Leben so gut gegessen. Jeden Morgen saß sie schon lange vor der Mittagszeit in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda, leckte sich die Lippen, schnüffelte nach den Gerüchen, die aus dem Küchenfenster drangen, und sah mit Spannung der kommenden Mahlzeit entgegen.
«Was machst du denn heute, mein Junge?», fragte sie dann wohl.
«Rate mal, Tante Glosspan.»
«Riecht wie Schwarzwurzelpfannkuchen, finde ich», antwortete sie und schnüffelte angestrengt.
Und dann kam das zehnjährige Kind mit einem kleinen Triumphlächeln heraus, in den Händen einen großen Topf, in dem ein himmlisches Ragout aus Pastinak und Liebstöckel dampfte.
«Weißt du, was du tun solltest?», meinte die Tante, während sie sich das Ragout schmecken ließ. «Du solltest sofort Papier und Bleistift nehmen, dich hinsetzen und ein Kochbuch schreiben.»
Langsam die Pastinakwurzel kauend, blickte Lexington zu ihr hinüber.
«Warum nicht?», rief sie. «Ich habe dich schreiben gelehrt, und ich habe dich kochen gelehrt, und jetzt brauchst du nur noch beides zu vereinigen. Ja, mein Liebling, du schreibst ein Kochbuch, und das wird dich in der ganzen Welt berühmt machen.»
«Schön», sagte er. «Einverstanden.»
An demselben Tag begann Lexington mit der Niederschrift des monumentalen Werkes, das ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen sollte. Er gab ihm den Titeclass="underline" Iss gut und gesund.
Sieben Jahre später hatte der nunmehr Siebzehnjährige etwa neuntausend Rezepte aufgezeichnet, samt und sonders eigene Erfindungen und alle ausgezeichnet.
Dann aber wurde seine Arbeit durch Tante Glosspans tragisches Ende jäh unterbrochen. Eines Nachts hatte sie einen heftigen Anfall, und Lexington, der in ihr Schlafzimmer gestürzt kam, um zu sehen, was der Lärm bedeutete, fand sie auf ihrem Bett liegen, schreiend und fluchend und sich zu allerlei komplizierten Knoten verdrehend. Es war ein entsetzlicher Anblick, und der aufgeregte Jüngling tanzte händeringend in seinem Pyjama um sie herum. Er hatte keine blasse Ahnung, was er tun sollte. In dem Bemühen, sie zu beruhigen, holte er schließlich einen Eimer Wasser aus dem Teich auf der Kuhweide und kippte ihn ihr über den Kopf, was jedoch die Krämpfe nur verstärkte, sodass die alte Dame binnen einer Stunde ihren Geist aufgab.
«Das ist wirklich zu schlimm», sagte der arme Junge und kniff sie ein paarmal, um sich zu vergewissern, dass sie tot war. «Und so plötzlich! So schnell und unerwartet! Vor wenigen Stunden schien es ihr doch noch ausgezeichnet zu gehen, denn sie aß drei große Portionen von meiner neuesten Schöpfung, den Pilzbuletten in Teufelssauce, und sie sagte, es schmecke herrlich.»
Da er seine Tante sehr geliebt hatte, weinte er einige Minuten. Dann riss er sich zusammen, trug sie hinaus und begrub sie hinter dem Kuhstall.
Am nächsten Tag räumte er ihre Sachen auf, und dabei fand er einen Umschlag, der in ihrer Handschrift an ihn adressiert war. Als er ihn öffnete, kamen zwei Fünfzigdollarnoten und ein Brief zum Vorschein. Geliebter Junge, las er, ich weiß, dass Du immer hier oben gelebt hast, seit Du dreizehn Tage alt warst, und nie ins Tal hinuntergekommen bist. Aber sobald ich tot bin, musst Du Dir Schuhe und ein sauberes Hemd anziehen und ins Dorf hinunter zum Doktor gehen. Bitte den Doktor, Dir einen Totenschein zu geben, damit Du beweisen kannst, dass ich gestorben bin. Diesen Totenschein bringst Du meinem Rechtsanwalt, einem Mann namens Samuel Zuckermann, der in der Stadt New York lebt und bei dem ich mein Testament hinterlegt habe. M. Zuckermann wird sich um alles kümmern. Das Geld in diesem Brief reicht aus, den Doktor und die Fahrkarte nach New York zu bezahlen. Mr. Zuckermann wird Dir mehr Geld geben, und es ist mein ausdrücklicher Wille, dass Du es dazu verwendest, Dein Studium kulinarischer und vegetarischer Angelegenheiten fortzusetzen. Arbeite weiterhin an Deinem großen Buch, bis Du es in jeder Hinsicht als vollkommen ansiehst. Deine Dich liebende Tante Glosspan.