»Du hältst nicht viel von mir, nicht wahr, Drusus?« fragte ich.
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte er erstaunt.
»Du hältst mich für hübsch und dumm, nicht wahr?«
»Ich werde dafür bezahlt, die Lady Sheila zu bewachen«, erwiderte er, »nicht um mir eine Meinung über ihren Charakter zu bilden.«
»Magst du mich?«
»Zuerst unterstellst du, ich hielte wenig von dir, dann fragst du, ob ich dich mag?«
»Unmöglich wäre es nicht.«
Er lächelte.
»Na, magst du mich?«
»Wäre das wichtig?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich zornig.
»Dann ist eine Antwort ja auch sinnlos.«
»Du verachtest und haßt mich!« rief ich.
»Das könnte mir einerseits leichtfallen, andererseits auch wieder nicht, wenn ich nämlich bedenke, was ich über die Tatrix von Corcyrus und ihre Herrschaft in der Stadt gehört habe. Doch nachdem ich dich nun persönlich kenne, kann ich wirklich nicht behaupten, daß ich dich hasse.«
»Wie schmeichelhaft!« rief ich.
»Dein öffentliches Ich und dein privates Ich scheinen sehr voneinander abzuweichen.«
»Mag sein«, sagte ich gereizt.
»So ist das zweifellos bei vielen Menschen.«
»Zweifellos.«
Drusus Rencius schaute links und rechts auf der Mauerkrone entlang. Wir waren praktisch allein hier oben. Die nächsten Leute, ein Pärchen, standen gut hundert Meter entfernt links von uns. Wieder blickte Drusus Rencius auf die Tarns, ehe sein Blick zu mir wanderte. Zornig wandte er sich schließlich ab. Er hatte die Fäuste geballt.
Tränen standen mir in den Augen. Ich wollte Drusus Rencius gefallen. Er sollte mich unbedingt mögen. Doch was ich auch sagte oder tat – alles schien falsch zu sein. Im nächsten Moment stieg Zorn über mich selbst in mir auf. Ich war doch keine Sklavin zu seinen Füßen, halb nackt in seinem Kragen, voller Angst vor seiner Peitsche! Ich war Tatrix und er ein einfacher Wächter. Erschaudernd fragte ich mich, wie es wohl wäre, von einem solchen Mann versklavt zu werden.
»Das Czehar-Konzert war schön«, sagte ich leichthin.
»Gut«, erwiderte er.
Die Czehar ist ein langes, flaches, rechteckiges Instrument, das man beim Spielen auf den Knien hält. Es verfügt über acht Saiten, die mit einem Stück Horn gezupft werden. Vorgestern abend hatte Lysander aus Asperiche ein Konzert gegeben.
»Was hat der Eintritt gekostet?« fragte ich.
»Einen Silber-Tarsk für uns beide«, antwortete er.
»Wenn ich mich richtig erinnere, ist das mehr, als ich deiner Meinung nach als Sklavin wert wäre«, sagte ich entrüstet.
»Wenn sich Lady Sheila an unser Gespräch erinnert, so sagte ich damals, daß sie in den intimen Künsten der Sklavin nicht ausgebildet ist, was sich natürlich auf den Preis auswirkt.«
»Künste?« fragte ich.
»Ja, die komplexen, subtilen und sinnlichen Künste, einem Mann voll und ganz zu gefallen.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Da ist es nur natürlich, daß manche Frauen einen höheren Preis bringen als andere.«
»Ich fand jedenfalls, daß Lysander gut gespielt hat«, sagte ich.
»Er gilt auch als einer der besten Czehar-Spieler auf ganz Gor.«
»Oh«, sagte ich. Wieder schien ich bei Drusus Rencius ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Bei ihm wollte mir auch gar nichts gelingen!
Wieder schaute ich in die Weite.
»Geht es Lady Sheila gut?« fragte Drusus Rencius.
»Ja«, sagte ich.
Die letzten Tage waren sehr angefüllt gewesen. Ich hatte nicht nur die Märkte und Bazare und Theater dieser Stadt gesehen, sondern so manches andere in der Stadt. Es war sehr angenehm gewesen, durch die kühlen Säle der Bibliotheken zu schreiten mit den vielen tausend Schriftrollen, die sorgfältig katalogisiert und abgelegt waren, und durch die Galerien an der Straße des Iphicrates. Die Brunnen auf den Plätzen beeindruckten mich sehr. Man konnte bei ihrem Anblick beinahe vergessen, daß sie nicht nur als Zierde gedacht waren, sondern nach goreanischer Art einen sehr konkreten Zweck hatten. Von den Brunnen mußten die meisten Leute ihr Wasser holen. Ganz besonders gefielen mir die öffentlichen Gärten. Je nach Pflanzenart blühen in den meisten Gärten ständig Blumen. Hier gibt es auch viele gewundene, beinahe abgeschirmte Wege. Hier findet man Farbe, Schönheit und an vielen Stellen Einsamkeit. Ich kannte nur wenige der Blumen und Bäume; doch zu meiner Überraschung wußte Drusus Rencius alle Pflanzen zu benennen, nach denen ich ihn fragte. Anscheinend achteten die Goreaner sehr auf ihre Umwelt. Sie bedeutet ihnen etwas. Sie leben darin. Dagegen war auf der Erde die Zahl derjenigen, denen Namen und Arten von Bäumen und Büschen, von Pflanzen, Insekten und Vögeln beigebracht wurden, verschwindend gering. Es überraschte mich auch, festzustellen, daß Drusus Rencius Blumen liebte. Aufgrund meiner irdischen Erfahrungen hätte ich mir nicht vorstellen können, daß ein Mann von seiner Kraft und Macht sich für etwas so Zartes und Unschuldiges begeistern konnte wie eine Blume. In einem abgelegenen Winkel des Parks war ich dicht vor Drusus stehengeblieben und hatte getan, als müsse ich meinen Schleier festmachen; er aber war einen Schritt zurückgetreten und hatte den Blick abgewandt. Geküßt hatte er mich nicht. Ärgerlich hatte ich meinen Schleier wieder festgemacht. Warum hatte er mich nicht geküßt? Weil ich seine Tatrix war? Ich fragte mich, wie es wohl wäre, in seinen Armen zu zerschmelzen.
Der über die Stadtmauer wehende Wind bewegte meinen Schleier.
Die Tage in Drusus Rencius’ Gesellschaft hatten mir Spaß gemacht, doch nachts, wenn ich allein in meinem Gemach lag, war ich oft unruhig und fühlte mich einsam. Und ich ersehnte mir Dinge, die ich niemandem einzugestehen gewagt hätte, weder Drusus noch Susan.
Gelegentlich führte mich Drusus Rencius auch zu Wettbewerben: Rennen, Wurfspießwerfen, Steinschleudern. Lange hielt ich es bei diesen Veranstaltungen nicht aus. Nur die Schwertkämpfe faszinierten mich, die allerdings mit lederumhüllten Klingen ausgefochten wurden. Wie die bronzehäutigen muskulösen Männer gegeneinander antraten, beobachtet von zwei Schiedsrichtern, konnte ich mir kaum vorstellen, was einen Schwertkampf auf Leben und Tod ausmachen würde; allein der Gedanke daran erfüllte mich mit Entsetzen. Besonders erregten mich die Kämpfe, bei denen es um ein Mädchen ging, das dem Sieger zugesprochen wurde. Unwillkürlich versetzte ich mich in ihre Lage und fühlte, wie sich in mir etwas regte.
Nach einem solchen Kampf folgte ich Drusus Rencius, der von meinem vibrierenden Zustand nichts zu ahnen schien. In einem verlassenen Korridor des Palasts blieb ich stehen. Ich wollte dem Mann noch eine Chance geben, mich zu küssen. »Dieser Schleier ist locker«, sagte ich gereizt und begann daran herumzufingern. Nicht ohne Absicht löste ich eine Nadel und ließ den Stoff auf einer Seite herabfallen. Ich trat dicht vor Drusus Rencius hin.
»Ich kann kaum etwas sehen«, sagte ich. »Würdest du mir den Schleier bitte festmachen?«
»Natürlich«, erwiderte er und nahm die Nadel.
Ich hob ihm den Kopf entgegen. Er war groß und kräftig. Als er an meine rechte Schläfe griff, um den Stoff zu befestigen, hielt ich seine Hand fest. »Ich erlaube dir, mich zu küssen«, sagte ich.
»Befiehlt mir Lady Sheila, sie zu küssen?« fragte er.
»Nein, natürlich nicht!«
»Ich brauche nicht die Erlaubnis einer Frau«, sagte er und befestigte meinen Schleier. Dann führte er mich in meine Gemächer.
Hinterher hatte ich mich sehr über seine Zurückweisung aufgeregt. Er hatte mich verschmäht! War ich denn irgendeine Dirne, von der er sich abwenden konnte? Ich war eine verzweifelte, unerfüllte Frau, die sich zu ihren Bedürfnissen zu bekennen wagte! Wie sehr ich ihn haßte! Ich war Tatrix, er nur ein Soldat, ein Wächter!
Auf Gor war mein Körper zur Fülle seiner Weiblichkeit erblüht, doch war ich trotz dieser neuen Vitalität in mancher Beziehung unzufrieden, bekümmert. Ich bekämpfte die heftigen Bedürfnisse, die in mir erwuchsen, Regungen, mich zu unterwerfen, total und rückhaltlos zu lieben, alles zu geben, nichts zu verlangen. Wie oberflächlich erschienen mir plötzlich Selbstsucht und Eigenliebe. Immer wieder fragte ich mich, woher diese anderen überwältigenden Gefühle kommen mochten. Sie erschreckten mich, standen sie doch so sehr im Gegensatz zu der irdischen Erziehung, der ich unterworfen gewesen war.