15
Ich spürte eine Hand an der Schulter. Sie schüttelte mich sanft. Außerdem spürte ich die warme Sonne auf dem Rücken. Ich lag bäuchlings im Gras. Meine Füße waren von schlammigem Wasser umspielt.
Drei Tage lang war ich als blinder Passagier des Tarnreiters mitgereist und hatte das Lager Miles’ aus Argentum weit hinter mir gelassen. In den ersten beiden Nächten hatte der Mann im Freien gelagert; am ersten Abend war ich aus dem Korb gekrochen und hatte mir Fleisch und Sa-Tarna-Brot aus seiner Packtasche beschafft, nachdem er eingeschlafen war. Ich bediente mich sehr vorsichtig, damit er keinen Verdacht schöpfen konnte. Schon am zweiten Tag fiel mir zu meinem Kummer auf, daß immer häufiger Siedlungen unter uns dahinzogen. Auch nahm die Zahl der kultivierten Äcker zu. Am zweiten Abend stahl ich Früchte aus einem Obstgarten und trank Wasser aus einem Teich. Schließlich nahm ich mir vor, einen dritten Tag im Korb zu riskieren, um zwischen mich und Argentum und Corcyrus weitere Hunderte von Pasang zu legen. Am dritten Tag aber bemerkte ich zu meiner Bestürzung Straßen unter mir und zahlreiche Dörfer und Felder. Wir passierten sogar zwei ausgedehnte Städte. Am dritten Abend landeten wir in einer Einfriedung innerhalb der Palisade einer befestigten Schänke, und das jagte mir doch einen gehörigen Schrecken ein. Es wurde Zeit, mich von meinem Befreier zu lösen. Ich konnte kein Interesse daran haben, nach Ar zu reisen, zu den Verbündeten Argentums. Leider fand ich keine Stelle, an der ich die Mauer der inneren Einfriedung übersteigen oder mich hindurchzwängen konnte. So versteckte ich mich zwischen den Tarnkörben, von denen hier mehrere lagerten. Schließlich gelang mir die Flucht, während der Korb eines frisch gelandeten Tarn vom außen gelegenen Landeplatz in die Umfriedung gezerrt wurde. Ich versteckte mich hinter den Abfallkästen auf der Rückseite des Wirtshauses. Der Innenhof wurde nicht von Sleen bewacht, vermutlich wegen der Gefahren für die Gäste. Ich ernährte mich heißhungrig von Abfall. Es hatte kürzlich geregnet, so daß etliche fortgeworfene Behälter und Deckel Wasser enthielten. Ich trank gierig. Oh, wie sehr beneidete ich die Gäste der Schänke, die Fleisch und Getränke vorgesetzt bekamen und saubere Zimmer und warme Betten hatten! Ich beneidete sogar die Sklavinnen, die sich drinnen befinden mochten. Ich schrie auf, als eine pelzige Urt mir am Bein entlangstrich. Ich kroch an der Hauswand entlang und hielt mich in der Deckung von Büschen. Mit der Hand schob ich Blätter zur Seite. Endlich hatte ich freien Blick auf das Haupttor der großen Palisade. Ein von Tharlarion gezogener Wagen fuhr herein. Er lag schief in den ausgefahrenen und vom Regen ausgeweichten Fahrspuren. Ein Hausdiener schloß sofort wieder das Tor und legte einen großen Sperrbalken vor, den er zusätzlich mit Schloß und Schlüssel sicherte. Dann folgte er dem Fahrer zu den Ställen. Ich eilte zum Tor und tastete unter den Torstämmen herum. Hastig grub ich den weichen Boden in der Tiefe der Wagenspuren fort und versuchte meinen Körper unter dem Tor hindurchzuschieben, aber die Öffnung war zu klein. Schon war das Räderrollen eines anderen Wagens zu hören, der von hinten um die Schänke kam. Hastig versteckte ich mich wieder im Gebüsch. Gleich darauf kehrte der Hausdiener zum Tor zurück und begann mit dem Fahrer zu streiten, der sich offenbar darüber beschwerte, daß der Mann nicht schon am Tor gewartet hatte. Zum Ausgleich überprüfte der Türwächter die Quittungen des Mannes besonders gründlich. »Ich glaube nicht, daß das Leusippus’ Zeichen ist«, sagte er. »Dann weck ihn!« forderte der Fahrer. »Ich muß bei Morgengrauen auf der Straße sein.« »Um diese Ahn kann ich ihn nicht wecken…« Als der Wächter endlich doch das Tor öffnete, lag ich längst hinten auf dem Wagen. Eine Ahn später, als die Morgendämmerung einsetzte, ließ ich mich lautlos über das Rückbord des Fahrzeugs gleiten und duckte mich auf der Straße nieder. Der Wagen fuhr weiter. Ich verließ die Straße und eilte über die Felder. Später hatte ich mich inmitten von Farnkräutern an einem kleinen Teich versteckt und die Nacht abgewartet. Da ich den Tag über noch nichts gegessen hatte, war ich sehr hungrig. Später kamen Wind und Wolken auf, und im Regen mühte ich mich durch das Gras. Zweimal verlor ich das Bewußtsein, vermutlich vor Hunger. Als ich beim zweitenmal wieder zu mir kam, hatte sich das Unwetter noch verschlimmert. Im Gras hockend, sah ich im Licht eines Blitzes in einem Tal unter mir eine Straße. Ich kroch darauf zu. Die Straße war von einem tiefen Graben gesäumt, in den ich mich sinken ließ, um dann den gegenüberliegenden Hang zur Fahrbahn zu erklimmen. Dieser aber erwies sich als zu steil. Erneut schwanden mir die Sinne.
»Was treibst du hier?« fragte eine Stimme.
»Ich bin eine freie Frau«, sagte ich.
Ich lag auf der Schräge und spürte Gras unter meinem Bauch. Die Sonne brannte mir heiß auf den Rücken. Schlammiges Wasser plätscherte im tiefen Straßengraben und benetzte meine Füße. Ein Mann hockte hinter mir. Ein zweiter bewegte sich oberhalb von mir auf der Straße.
»Banditen griffen mich an«, sagte ich, »und raubten mir die Kleider.«
»Halt still!« sagte die Stimme hinter mir.
Ich vernahm das Rasseln von Ketten und erstarrte. »Was tust du?« fragte ich.
»Halt still!« sagte der Mann und fesselte mich fachkundig.
»Aber ich bin eine freie Frau!«
»Und wurdest von Banditen hier liegengelassen? An ihrer Stelle hätte ich eher die Kleidung zurückgelassen und dich mitgenommen!«
Ich schwieg.
»Aber vermutlich war es sehr dunkel, oder sie hatten schlechte Augen.«
Ich schwieg.
»Was hast du für einen Heimstein?« fragte er.
Ich überlegte hastig. Natürlich wollte ich mich nicht mit Corcyrus oder anderen Städten aus diesem Gebiet identifizieren, auch nicht mit Argentum. Ich wußte außerdem, daß wir nach Nordwesten geflogen waren. Willkürlich wählte ich also eine Stadt, die hoch im Norden lag, eine Stadt, von der ich hatte erzählen hören, ohne daß ich viel über sie wußte.
»Lydius«, sagte ich.
»Wo liegt Lydius?«
»Im Norden.«
»An welchem See?«
»Das weiß ich nicht.«
»Es liegt gar nicht an einem See, sondern am Fluß Laurius.«
Ich schwieg.
»Wo ist deine Eskorte, wo sind deine Wächter?«
»Ich bin allein gereist.«
»Das ist für eine freie Frau sehr ungewöhnlich. Was tatest du auf dieser Straße?«
»Na, reisen. Ich wollte einen Besuch machen.«
»Und wohin führt die Straße?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich schluchzend.
»Schau her!« sagte der Mann und drehte mich um. Er war ein muskulöser blonder Jüngling und machte einen recht gutmütigen Eindruck. Er hockte sich nieder und zeichnete etwas in den Schlamm.
»Was ist das für ein Buchstabe?«
»Ich weiß es nicht.«
»Al-ka«, antwortete er.
»Ich kann nicht lesen.«
»Die meisten freien Frauen können es aber. Wie heißt du?«
»Lita«, sagte ich. Diesen Namen hatte ich schon einmal angenommen, als Drusus Rencius mich in das Haus des Kliomenes in Corcyrus führte.
Beide Männer begannen daraufhin zu lachen.
»Das ist ein ganz gewöhnlicher Sklavenname!« sagte der Jüngling. »Für mich ist klar, daß du eine Sklavin bist, Lita. Du bist nackt, du hast anscheinend keinen Heimstein, du weißt nicht, wo du bist. Du kannst nicht einmal lesen. Du trägst einen typischen Sklavennamen. Deshalb wirst du mich künftig mit ›Herr‹ anreden.«