»Bitte nicht!«
Und er bückte sich, warf mich über seine Schulter und stieg mühsam den steilen Hang empor. Gleich darauf hatten mich die beiden Männer auf der Ladefläche ihres offenen Tharlarionwagens verstaut. Sie behandelten mich nicht grob.
»Ich bin sehr hungrig, ihr Herren«, sagte ich. »Kann ich etwas zu essen haben?«
»Aber ja«, sagte der junge Mann, der mich den Hang heraufgeschleppt hatte. Während sich sein Begleiter auf den Kutschbock setzte und das behäbige Zugtier anspornte, gab er mir zwei große Stücke Sa-Tarna-Brot, das mir köstlich mundete. Er rundete die Mahlzeit mit einer Scheibe getrockneter Larmafrucht, Rosinen und einer Pflaume ab. Zweimal schenkte er Wasser aus einem Beutel in eine Tasse.
»Iß nicht so schnell«, sagte er warnend. »Wie lange hast du schon nicht mehr gegessen?«
»Seit gestern abend, ehe die Banditen angriffen.«
Er lachte nur. Ich hatte seit vier Tagen nicht mehr richtig gegessen.
»Du siehst gleich viel besser aus«, sagte er schließlich, als ich fertig war.
»Vielen Dank, Herr. Darf ich sprechen?«
»Ja.«
»Wo bin ich hier?«
»Du bist auf der Viktel Aria«, antwortete er, »nördlich von Venna. Wir fahren in südlicher Richtung.«
Diese Auskunft brachte mir zu Bewußtsein, daß ich doch länger bei dem Tarnreiter geblieben war, als gut für mich war. Ich war schon näher bei Ar, als mir lieb sein konnte. Andererseits war der Frachtreiter offenkundig nicht auf direktem Weg nach Ar geflogen, sondern hatte einen Umweg nach Norden gemacht; vermutlich wegen der Schänke, in der er zuletzt übernachtet hatte – vielleicht hatte er ein Mädchen dort. Venna, soviel wußte ich, lag etwa zweihundert Pasang nördlich von Ar. Die Worte ›Viktel Aria‹ heißen wörtlich übersetzt ›Ars Triumph‹. In den nördlichen Abschnitten wird die Straße vorwiegend Voskstraße genannt.
»Warum sind hier links und rechts so tiefe Gräben?« fragte ich.
»So ist es über eine Strecke von mehr als hundert Pasang in dieser Gegend«, antwortete er, »mit Ausnahme der Kreuzungen und Abzweigungen. Diese Gräben machen es unmöglich, Vorratswagen quer über die Straße zu bringen, also von Osten nach Westen oder umgekehrt. Auf diese Weise wirkt sich die Straße fast wie eine Mauer aus.«
»Sie dient gewissermaßen der militärischen Verteidigung?« fragte ich.
»Ja«, sagte er.
»Wohin fahrt ihr?«
»Nach Venna.«
»Was habt ihr mit mir vor?«
»Wir werden dich im Büro des Archonten von Venna abliefern.«
16
Grob wurde mir das Kinn mit dem Daumen hochgestoßen. »Nein«, sagte eine Stimme, »das ist nicht meine Tutina.«
Der Mann, der vom Aufseher des Archonten begleitet wurde, verließ die runde Zementplattform und verschwand in der Menschenmenge, die die Straße füllte. Die Straße lag in Venna anscheinend sehr zentral; sie führte zum Marktplatz. Meine Plattform lag links von der Straße, mit Blick auf den Platz, und an der vordersten Front eines öffentlichen Sklavenmarkts. Hinter der Verkaufszone erhob sich ein düsteres Gebäude mit Gitterfenstern. In diesem Gebäude waren die Sklaven untergebracht, außerdem hatte der Aufseher des Archonten dort sein Büro. Etliche Mädchen waren wie ich zur Schau gestellt. Sie sollten verkauft werden. Ich stand nicht zum Verkauf, wenigstens noch nicht. Man hatte mir zu verstehen gegeben, wenn nicht innerhalb von zehn Tagen Ansprüche auf mich erhoben würden, wollte man mich ebenfalls zur Veräußerung freigeben, um zumindest die Kosten für meinen Aufenthalt hereinzubekommen.
Es war heiß auf der Plattform, zumal meine Arme an Ketten hochgezogen waren, eine sehr ermüdende Stellung.
Der Nachmittag zog sich endlos hin.
Von Zeit zu Zeit blieb ein Mann in der Menge stehen, um mich zu betrachten. Gewöhnlich schaute ich in eine andere Richtung, doch hatte ich mit der Zeit das Gefühl, die Blicke auch so spüren zu können. Manche kamen auf die Plattform, um mich näher zu betrachten.
Am Spätnachmittag erstarrte ich plötzlich vor Entsetzen. Hastig senkte ich den Kopf und unterdrückte das Zittern, das mich von Kopf bis Fuß durchlief. Am liebsten hätte ich mich versteckt, aber das war nicht möglich.
Er durfte mich nicht gesehen haben! Auf keinen Fall!
Ich drehte mich ein wenig in der Kette, als wollte ich lediglich die Stellung wechseln.
Mein Herz pochte vor Entsetzen.
Ausgerechnet er!
Auf keinen Fall durfte er mich bemerken!
»Der Churl soll ausgezogen werden!« hatte ich herablassend verkündet. »Man hänge ihm ein Schild um, das ihn als Betrüger bloßstellt. Dann soll er von Wächtern durch das große Tor von Corcyrus gestoßen werden und die Stadt vor der Zweiten Passage-Hand nicht wieder betreten dürfen!«
Hier konnte ich nicht fliehen. Hilflos, nackt, festgekettet, so stand ich in der Öffentlichkeit.
Ein corcyrischer Kaufmann hatte ihn beschuldigt, eine nur versilberte Schale mit falschen Ar-Stempeln als echtes Silber ausgegeben zu haben. Außerdem hatte er falsche Maße benutzt und Sklavenhaar als das Haar freier Frauen ausgegeben.
Er mußte längst vorbei sein!
Entsetzt fuhr ich zusammen. Jemand war zu mir auf die Plattform gestiegen. Ich hielt den Blick gesenkt. Und wie schon zwei- oder dreimal zuvor fühlte ich einen Daumen unter meinem Kinn. Jemand schob meinen Kopf nach oben.
Entsetzt schaute ich in die Augen des Hausierers Speusippus aus Turia.
17
»Nun sind wir allein, Lady Sheila«, sagte er.
Er hatte sich von der Tür abgewandt, nachdem er sie verschlossen und den Schlüssel in seinen Geldbeutel gesteckt hatte.
Ich stand mit dem Rücken an einer rauhen Holzwand in einem kahlen, weitgehend unmöblierten Zimmer. Es grenzte an einen kleinen Stall, vor dem sich ein kleiner Stallhof erstreckte. Speusippus’ Tharlarion war im Stall untergestellt, und draußen im Hof wartete sein Wagen, den er an eine Kette gelegt hatte. Die zahlreichen Kisten und Truhen mit seinen Waren waren in das kleine Zimmer gebracht worden. Es handelte sich um eine von mehreren solcher Unterkünfte, die gewöhnlich von Fuhrleuten und reisenden Händlern gemietet wurden. Sie befand sich in einem Vorort Vennas.
Nachdem sich Speusippus beim Archonten als mein Herr ausgegeben hatte und ich ihm nicht widersprechen konnte, weil er mich sonst den Häschern aus Argentum verraten hätte, war ich ihm hierher gefolgt. Zunächst hatte ich seinen Tharlarion abreiben und anschließend den Stall ausmisten und frisches Grünfutter holen müssen.
Anschließend hatte er mich an einen öffentlichen Brunnen geführt, wo ich mich unter seiner Aufsicht waschen mußte. Von dort waren wir zu seiner Unterkunft zurückgekehrt, wo ich ihm über einem kleinen Grill im Hof etwas zu essen machen mußte. Ein Stück Fleisch hatte er mir überlassen. Vor einigen anderen Hütten in der Reihe sah ich andere Mädchen, die für ihre Herren kochten. Nachdem ich den Grill gesäubert und das Geschirr abgewaschen hatte, waren wir in das Zimmer gegangen. Er hatte die Tür verschlossen.
Ich spürte die Rauheit der Wand auf meinem Rücken.
»Nicht übel, Lady Sheila«, sagte er. »Wenn ich es nicht besser wüßte, könnte man meinen, du hättest schon gewisse Erfahrungen besessen. Vielleicht ist einer Frau so etwas angeboren. Hinein!« Und er hielt den Deckel der großen Kiste offen.
Ich kroch in die große tiefe Kiste und legte mich seitlich und mit angezogenen Beinen darin nieder.
»Habe ich dem Herrn gefallen?« fragte ich.
»Du sprichst wie eine Sklavin«, sagte er spöttisch.
»Verzeih mir, Herr!« Es erschien mir selbst kaum glaublich, doch war mir wichtig, daß er Gefallen an mir fand.
»Hast du Hunger?« fragte er.
»Ja, Herr.«
Er ging in einen Winkel des Zimmers und kehrte mit einem Stück Trockenfleisch zurück, das er mir hinwarf.