»Wohin führt diese Straße?« fragte ich.
»Nach Argentum.«
Ich tat, als müßte ich einige Tuniken noch nachwaschen, und blieb am Fluß, bis Tina fertig war und zum Wagen ihres Herrn zurückgekehrt war. Unbemerkt bückte ich mich dann, las vom Flußufer einen kleinen scharfen Stein auf und steckte ihn in den Saum meiner Sklaventunika. Später würde ich ihn im Mund aufbewahren, denn Speusippus würde mir die Tunika nehmen, ehe ich mich wieder in die Truhe legen mußte. Diese Truhe war zwar sehr robust gebaut, doch bestand sie nicht aus Eisen, sondern aus Holz.
18
Auf der steinernen Straße hastete ich nach Osten, der Viktel Aria entgegen.
Die Steinstraße war feucht. Die Nacht war wolkenverhangen.
Ich hatte zwei Nächte gebraucht, um mir mit dem scharfen Stein unter der Decke in der Truhe einen Weg in die Freiheit zu schaben. Mit tiefen, gleichmäßigen Schabebewegungen hatte ich begonnen und Rillen geschaffen, die ich immer mehr vertiefte, langsam und gründlich. Ich war mit äußerster Vorsicht und sehr leise vorgegangen und immer nur dann, wenn ich genau wußte, daß Speusippus schlief. Am Tage versteckte ich den Stein in der Decke, die auch die sonstigen Spuren meiner Arbeit verdeckte. Oh, wie froh war ich, daß Speusippus sich ziemlich nachlässig zeigte, was meine Unterbringung anging. Gestern früh, vor Beginn der Morgendämmerung, war es mir gelungen, den Boden der Truhe zu lockern. Ich hatte mich auf eine Seite gerollt und meine Finger darunter geschoben. Heute abend, vor wenigen Ahn, hatte ich den Boden ins Innere der Truhe gehoben. Dann hatte ich die ganze Truhe verkantet und mich zwischen den beiden Eisenbändern hindurchgewunden, die das Behältnis umspannten und mit den beiden Schlössern so verbunden waren, da man sie nicht aussägen konnte. Ich hatte die Truhe dann wieder an ihren Platz geschoben, war aus dem Wagen gehuscht und hatte das Lager im Laufschritt verlassen.
Wieder war ich nackt, wie damals im Lager Miles’ aus Argentum. Keuchend lief ich nach Osten, so schnell ich konnte. Zwischendurch ging ich langsamer, um wieder zu Atem zu kommen. Gewiß rechnete man nicht damit, daß ich mich an die Straße halten würde. Dabei kam ich auf der Straße am schnellsten voran. Ebensowenig würde man erwarten, daß ich zur Viktel Aria zurückkehrte. Dort mußte ich nicht nur mit einer dichteren Besiedlung rechnen, dort befand ich mich überdies in gefährlicher Nähe Ars. Aus meiner Sicht, so würde man folgern, mußte das beinahe genauso schlimm sein, wie den Weg nach Argentum fortzusetzen. Wahrscheinlich rechnete man sich aus, daß ich dem Fluß folgen wollte, durch das Wasser watend, bis ich dann einige Pasangs weiter an Land stieg und nach Norden wanderte. Speusippus würde daran denken, daß ich ihn angefleht hatte, nicht nach Ar gebracht zu werden.
Ich eilte durch die Nacht.
Ein weiterer Grund, der für die Straße sprach, war die Hoffnung, daß man auf der harten, nassen Oberfläche meiner Spur nicht so gut folgen konnte. Außerdem gab es im Lager keine Sleen, und es mochte Tage dauern, bis Speusippus solche Tiere mieten konnte. Außerdem besaß er nicht viel, mit dem er Sleen auf meine Fährte setzen konnte. Die Decke in der Truhe war vor mir von anderen Mädchen benutzt worden. Und meine Tunika hatte ich noch am Abend vor der Flucht frisch ausgewaschen meinem Herrn ausgehändigt, ehe ich mich scheinbar hilflos in meinem Nachtgefängnis einschließen ließ.
Die Wolkendecke verdichtete sich noch mehr. Ich spürte Regentropfen.
Vielleicht verzichtete Speusippus überhaupt darauf, Sleen zu mieten. Als vernünftiger Mann mußte er erkennen, daß die Fährte schon bald verblaßt sein mußte. Außerdem sind Sleen sehr teuer.
Es begann zu regnen. Ich hieß die Feuchtigkeit willkommen, in der Hoffnung, sie würde meine Spur fortwaschen.
Und noch einen Grund hatte ich, den Weg zurückzugehen, den wir in den letzten Tagen genommen hatten. Gestern hatte ich einen offenen Transporter gesehen, in dem angekettete Sklavinnen saßen; es war nicht der erste Wagen dieser Art gewesen, der uns begegnete: Fahrzeuge vom gleichen Typ, die anscheinend einer bestimmten Firma gehörten. Ich hatte mich erkundigt. Es handelte sich um Mädchen, die als Arbeitssklavinnen eingesetzt werden sollten, eine sehr niedrige Form der Sklaverei, vielleicht die niedrigste Stufe überhaupt, noch unter der des Kessel-und-Matten-Mädchens. Arbeitssklavinnen bringen keine hohen Preise und werden oft gruppenweise verkauft. Sie arbeiten im allgemeinen als »Küchen-Mädchen«, »Wäsche-Mädchen«, »Fabrik-Mädchen« und dergleichen. Die Mädchen, die ich gesehen hatte, so wurde berichtet, waren auf Märkten im Norden erstanden worden, wo die Preise oft niedriger waren, und wurden nun wahrscheinlich nach Südosten gebracht, um dort Schwerarbeit zu leisten. Ich hoffte mit diesen Mädchen Kontakt aufzunehmen und mir von ihnen Nahrung und vielleicht einen Rat holen zu können. Meine Schicksalsgenossinnen würden mich bestimmt nicht im Stich lassen.
Gegen Morgen hörte der Regen auf, und ich verließ die Argentum-Straße, um beim Hellwerden nicht entdeckt zu werden.
19
Ich stand in einer langen Reihe von etwa zwanzig Mädchen. Wir waren alle unbekleidet und standen im Hof einer der Webereien Mintars aus Ar.
Das zweite der dicken Tore schloß sich hinter uns. Ich ließ meine Blicke durch den Hof wandern, der von hohen Mauern umschlossen und von Wachstationen gesichert war.
»Jeder Gedanke an Flucht wäre sinnlos, Tiffany«, sagte ein Mädchen hinter mir, das Emily hieß.
»Hier gibt es nur einen Ausweg«, sagte ein anderes Mädchen weiter hinten, »und zwar muß man nett sein zu den Männern.«
»Das ist aber auch gefährlich«, meinte ein drittes Mädchen, »denn wenn man den Peitschenmeistern zu sehr gefällt, verstecken sie einen irgendwo, um die Annehmlichkeit ganz für sich zu haben.«
»Ihr seid doch alles Dirnen!« sagte eine große häßliche Frau, Luta genannt, die ein Stück weiter hinten stand.
Eine Peitsche knallte, und wir zuckten zusammen. Ich hatte Angst vor Luta. Sie war groß und kräftig, und ich spürte, daß sie mich nicht mochte.
»Die nächste«, sagte ein Mann an einem Tisch, und wir rückten um eine Position vor.
In meiner Reihe stammten nur zwei Mädchen – Emily und Luta – aus dem Sklavenwagen, den ich auf der Argentum-Straße eingeholt hatte. Mein Vorhaben, Hilfe zu erbitten, war schiefgegangen, denn man hatte mich sofort gefangen und frohgemut in die Kette der Mädchen eingereiht.
»Die nächste«, sagte der Mann am Tisch, und wir rückten auf.
Im Augenblick trug ich keinen Kragen. Der Sklavenwagen, zu dessen Besitz ich geworden war, gehörte Mintar aus Ar, der ein weitverzweigtes Wirtschaftsreich unterhielt. Unsere Fahrt war in einem Gebäudekomplex außerhalb Ars zu Ende gewesen, wo die Mädchen aufgeteilt werden sollten. Ich erlebte dort eine ganz besondere Behandlung: Ich wurde ganz offiziell zur Sklavin gemacht.
»Die nächste«, sagte der Mann am Tisch.
Nun stand ich vor ihm.
»Schenkel«, sagte er.
Ich wandte mich zur Seite, damit er meinen linken Oberschenkel sehen konnte.
»Das einfache Kajirazeichen«, sagte er und nahm auf seinem Papier eine Eintragung vor. »Schau mich an, Mädchen.«
Ich gehorchte.
»Bei Einlieferung kurzgeschoren«, sagte er und notierte etwas. »Wie hat man dich zuletzt genannt?« fragte er.
»Tiffany«, antwortete ich.
»Dann heißt du jetzt auch ›Tiffany‹«, sagte er.
»Ja, Herr.« Er schrieb etwas auf, vermutlich den Namen, der jetzt mein Sklavenname war. Den Namen »Tiffany Collins« hatte ich vor wenigen Ahn verloren, als ich das Brandzeichen erhielt, als ich Sklavin wurde. Dieser Name war Vergangenheit, als sich das fauchende, qualmende Eisen von meinem Fleisch löste. Eine freie Person war im Brandgestell angeschnallt worden, eine Sklavin wurde daraus befreit.
»Hast du schon einmal in einer Weberei gearbeitet, Tiffany?« fragte er.
»Nein, Herr.«
»Komm hier zu mir herum an die Seite des Tisches und knie nieder«, sagte er. Ich gehorchte. Mit einem Fettstift brachte er vier Zeichen über meiner linken Brust an. »Das ist deine Weberei-Nummer, Tiffany«, sagte er. »Viertausendunddreiundsiebzig.«