»Dies ist der Palast? Vor der Tür stehen Wächter?«
»Ja. Herrin.«
»Dein Herr macht mir angst«, sagte ich.
»Mir auch«, erwiderte sie.
»Zweifellos sind unsere Ängste dumm und unbegründet«, meinte ich.
»Nein, Herrin. Nicht, daß er deine Schönheit nicht sähe«, fügte das Mädchen sofort hinzu. »Die erkennt jeder Mann sofort. Das Interesse Ligurious’ scheint nur nicht in diese Richtung zu gehen. Außerdem hat er natürlich viele schöne Frauen zur Verfügung. Er ist ein vielbeschäftigter Mann.«
»Viele schöne Frauen?« fragte ich.
»Sklavinnen?«
»Außer dir noch andere?«
»Ich bin nur eines seiner Mädchen«, erklärte sie lachend, »und bestimmt eines seiner am wenigsten reizvollen.«
»Wie viele Sklavinnen besitzt er denn?«
»Fünfzig.«
Ich schnappte nach Luft.
»Vielleicht möchte Herrin jetzt zu Ende frühstücken«, sagte das Mädchen.
»Ich habe keinen Appetit.«
»Soll ich meinem Herrn Ligurious melden, daß die Herrin nicht aufgegessen hat?«
»Nein, nein!« sagte ich hastig und kam mir wie eine Sklavin vor.
»Ausgezeichnet, Herrin«, sagte das Mädchen schließlich. »Ich werde die Herrin jetzt anziehen. Ich werde sie lehren, welche Kleidung hier getragen wird und wie sie anzulegen ist und welche Schleier dazugehören. Dann wird es Zeit für den Unterricht.«
»Unterricht?« fragte ich angstvoll.
»Ja, Herrin. Sprachunterricht, Unterricht in Sitten und Gebräuchen. Du mußt lernen, wie Corcyrus regiert wird.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wer bist du?« fragte sie.
»Tiffany Collins.«
»Nein, Herrin. Diese Identität mußt du ablegen. Sieh sie als etwas, das vergangen ist, als wärst du eine Sklavin. Bereite dich auf einen Neuanfang vor.«
»Aber wie?« fragte ich. »Was soll ich tun? Wer soll ich sein?«
»Soviel weiß ich«, erwiderte das Mädchen lächelnd. »Mein Herr hat mir deine neue Identität mitgeteilt.«
»Und die wäre?«
»Ab sofort solltest du dich damit vertraut machen, Sheila, Tatrix von Corcyrus zu sein.«
»Sheila, Tatrix von Corcyrus?« fragte ich.
»Ja, Herrin.«
»Was ist eine Tatrix?«
»Ein weiblicher Herrscher.«
Ungläubig starrte ich sie an.
»Es ist für mich eine große Ehre«, sagte das Mädchen, »der Tatrix von Corcyrus dienen zu dürfen.«
Ich begann zu zittern.
»Wiederhole es: Wer bist du?«
»Sheila, Tatrix von Corcyrus«, flüsterte ich.
»Ganz recht, Herrin.«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich. »Ich begreife überhaupt nichts mehr! Ich weiß nicht einmal den Namen der Welt, auf der ich mich hier befinde!«
»Sie heißt Gor«, antwortete das Mädchen.
4
Spät in der Nacht erwachte ich. Ich hatte in goreanisch geträumt, in der Sprache, die in Corcyrus gesprochen wurde, wie überhaupt in vielen Ländern dieses Planeten.
Seit meiner Ankunft waren mehrere Wochen vergangen. In dieser Zeit war ich jeden Tag viele Stunden – oder Ahn – lang unterrichtet worden, um mich meiner neuen Umgebung anpassen zu können. In vielen Dingen fehlte es mir noch sehr an Kenntnissen, doch war mir und meinen vielen Lehrern klar, daß ich bereits große Fortschritte machte.
Nackt lag ich auf dem breiten Bett. Es war eine warme Nacht.
Vorgeblich war ich Sheila, Tatrix dieser Stadt, die Corcyrus hieß.
Noch wirkte der Wein, den ich zum Abendessen getrunken hatte. Ich nahm nicht an, daß es sich um einen gewöhnlichen Wein gehandelt hatte: Möglicherweise war er mit einem Betäubungsmittel versetzt gewesen.
Ich hatte einen seltsamen Traum erlebt, vermengt mit anderen Visionen. Es war schwer, diese Dinge in den Griff zu bekommen.
In den letzten Tagen war ich Schritt für Schritt in das öffentliche Leben Corcyrus’ eingeführt worden, zunächst mit Kleinigkeiten wie der Gewährung von Audienzen, gewöhnlich für Ausländer, und kurzen Auftritten vor Bürgern der Stadt. Dabei war mir Ligurious nicht von der Seite gewichen und hatte mir gutgelaunt und unauffällig geholfen. Oft hätte ich ohne seine Vorschläge nicht gewußt, was ich tun oder sagen sollte. Gestern hatte ich sogar Gericht gehalten, wenn die Fälle auch unbedeutend gewesen waren.
»Der Churl soll ausgezogen werden!« hatte ich herablassend verkündet. »Man hänge ihm ein Schild um, das ihn als Betrüger bloßstellt. Dann soll er von Wächtern durch das große Tor von Corcyrus gestoßen werden und die Stadt vor der Zweiten Passage-Hand nicht wieder betreten dürfen!«
Dies war der Fall, an den ich mich am deutlichsten erinnerte.
Der Übeltäter war ein kleiner, ungepflegter Mann mit entstelltem Körper. Er war reisender Händler und nannte sich Speusippus aus Turia. Ich hatte ihn widerlich gefunden. Ein corcyrischer Händler hatte ihn angezeigt: Er habe von Speusippus eine Schale erhalten, die angeblich aus Silber bestand und die das entsprechende Siegel Ars aufwies. Bei näherer Untersuchung hatte sich das Metall aber als lediglich versilbert herausgestellt. Da die Silberschmiede Ars versilberte Waren mit einem entsprechenden anderen Ar-Siegel versehen hätten, lag hier nicht nur ein falscher Verkauf vor, sondern auch noch eine Fälschung. Diese Feststellung hatte eine Beschlagnahme von Speusippus’ Lager und Unterlagen geführt, und dabei waren etliche andere Unregelmäßigkeiten ans Tageslicht gekommen. So verfügte er über zweierlei Gewichte: Ein Satz stimmte, ein anderer nicht. Außerdem hatte er Sklavinnenhaar als das Haar von freien Frauen verkauft.
Ich war froh, als der übelriechende Speusippus endlich aus dem Saal gezerrt wurde. Wie erfreulich war es außerdem, die eindrucksvolle Kraft von Männern meinem Kommando unterworfen zu sehen!
Nun lag ich auf meiner riesigen Couch in der heißen corcyrischen Nacht.
Es gab viele Dinge, die ich nicht verstand. Selbst Susan, die soviel mehr über Gor wußte als ich, schien nicht alles zu begreifen.
So erschien ich zu meinen Audienzen und anderen öffentlichen Auftritten ohne die Schleier, die der freien Goreanerin normalerweise zustehen. Ich kannte die Schleier: Susan hatte mir beigebracht, was sie bedeuteten und wie sie arrangiert und befestigt werden mußten, doch trug ich sie nur selten, zumindest in der Öffentlichkeit. Dieser Umstand verwirrte mich, besonders im Licht der Dinge, die ich über den hohen Status einer Tatrix gelernt hatte, doch sah ich keinen Grund zum Protestieren, zumal das Wetter in Corcyrus sehr warm war. Ich fand Susans Erregung und Empörung darüber, daß ich meine Gemächer unverschleiert verließ, sogar ein wenig amüsant – immerhin kam sie aus Cincinnati, Ohio! Ich versuchte ihr die Sache zu erklären, so wie Ligurious sie mir klargemacht hatte, als ich ihn danach fragte. Der wichtige Unterschied zwischen mir und anderen hochstehenden Frauen war eben der, daß ich die Tatrix war und sie nicht. Eine Tatrix, so hatte Ligurious mir versichert, hatte keine Geheimnisse vor ihrem Volk. Es sei gut für das Volk einer Tatrix, ihre Herrscherin voller Liebe und Anbetung betrachten zu können. »Ja, Herrin«, hatte Susan mit gesenktem Kopf erwidert, und ich hatte mich gefragt, ob Ligurious die Wahrheit gesagt hatte. Zumindest bestand kein Zweifel mehr, daß die Gesichtszüge der Tatrix in Corcyrus inzwischen ziemlich bekannt waren. Noch heute früh war ich unverschleiert in einer großen offenen Sänfte von Sklaven durch die Straßen Corcyrus’ getragen worden, begleitet von Ligurious, flankiert von Wächtern, angekündigt von Trommeln und Trompeten: Die Menschenmassen hatten gejubelt. »Dein Volk liebt dich«, hatte Ligurious gesagt. Ich hatte grüßend die Hand gehoben, mich verneigt und gelächelt. Dabei hatte ich mich anmutig und würdevoll gegeben, wie es mir Ligurious beigebracht hatte. Es war ein aufregendes Erlebnis für mich gewesen: die Menschen, die Läden, die Straßen, die Gebäude. Zum erstenmal hatte ich das Palastgrundstück verlassen können. Die Straßen waren sauber und wunderschön. Blumenduft lag in der Luft. Verschleierte Mädchen hatten vor der Sänfte Blütenblätter gestreut.