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Bum, bum, bum – Kalle fragte sich, ob eine Dampfmaschine im Zimmer versteckt sei. Aber es war nur sein Herz, das klopfte, als ob es Lust hätte herauszuspringen.

Indessen schlief Onkel Einar weiter. Jetzt lag die Hand auf der Bettdecke. Kalle öffnete den Deckel des Stempelkissens, und vorsichtig, als ob er glühende Kohlen anfassen wollte, nahm er Onkel Einars Daumen und drückte ihn gegen das Stempelkissen.

»Äh – puh«, sagte Onkel Einar.

Jetzt ging es nur darum, das Stück Papier hervorzuholen. Wo in aller Welt hatte er es gelassen? Das war ja reizend! Da lag sein Schurke mit Stempelfarbe am Daumen, alles war wie zu-rechtgelegt, und jetzt fand er das Papier nicht – ja, jetzt hatte er es! Es war da! In der Hosentasche! Mit großer Vorsicht drückte er Onkel Einars Daumen gegen das Papier.

Die Sache war in Ordnung. Er hatte den Fingerabdruck, und er hätte nicht zufriedener sein können, wenn er eine weiße Maus bekommen hätte, was sonst das war, was sein Herz am meisten begehrte.

Jetzt langsam zurückkriechen und sich über das Fensterbrett schwingen! Das war ja so einfach.

Ja, alles wäre sicher nach Berechnung gegangen, wenn Tante Mia nicht so ein Blumenfreund gewesen wäre. In der anderen Hälfte des Fensters, in der, die nicht offen war, stand eine kleine bescheidene Geranie. Kalle erhob sich vorsichtig aus seiner liegenden Stellung und … Einen Augenblick lang glaubte er, daß es ein Erdbeben oder eine andere Naturkatastrophe war, was diesen schrecklichen Lärm zustande brachte. Und es war doch nur ein armer kleiner Blumentopf.

Kalle stand aufrecht am Fenster mit dem Rücken zu Onkel Einars Bett. »Jetzt sterbe ich«, dachte er, »und das ist ganz gut.« Mit jeder Fiber seines Wesens hörte und fühlte und begriff er, daß Onkel Einar aufgewacht war. Kein Wunder übrigens, dieser Blumentopf hatte wahrhaftig ein Leben geführt, als ob er ein ganzer Blumenladen wäre.

»Hände hoch!«

Es war Onkel Einars Stimme, aber doch nicht die seine. Sie klang, ja – sie klang wie Stahl.

Es ist immer am besten, einer Gefahr gerade ins Auge zu sehen. Kalle drehte sich um und blickte direkt in eine Revolver mündung. Ach, in der Phantasie hatte er es so viele, viele Male getan, und es hatte ihm niemals etwas angehabt. Mit einem schnellen Schlag hatte er den Kerl überrumpelt, der auf ihn gezielt hatte, und mit einem »Nicht so eilig, mein bester Herr« hatte er ihm geschickt den Revolver entwunden.

In der Wirklichkeit ging es etwas anders zu. Kalle hatte wohl viele Male in seinem Leben Angst gehabt. Er hatte Angst gehabt, als der Hund des Bankdirektors ihn einmal auf dem Marktplatz angefallen hatte und als er im Winter einmal in ein Eisloch gefallen war, aber niemals, niemals hatte er eine so lähmende, quälende Angst gefühlt wie in dieser Minute.

»Mutter«, dachte er.

»Komm näher!« sagte die Stahlstimme.

Wie kann man gehen, wenn man nur ein paar weiche Makka-roni hat, wo sonst die Beine sind? Er machte jedenfalls einen Versuch.

»Was in aller Welt – bist du es, Kalle?«

Der Stahl war aus Onkel Einars Stimme weg, aber er fuhr streng fort: »Was machst du eigentlich hier mitten in der Nacht? Antworte!«

»Hilfe«, wimmerte Karl innerlich. »Wie soll ich es erklären?«

In Stunden der höchsten Not bekommt man mitunter eine Eingebung, die einen retten kann. Kalle erinnerte sich, daß er vor einigen Jahren zu schlafwandeln pflegte. Er war des Nachts irgendwo umherspaziert, bis seine Mutter mit ihm zum Doktor ging und er Beruhigungsmittel bekam.

»Na, Kalle?« sagte Onkel Einar.

» Wie bin ich hierhergekommen?« sagte Kalle. »Wie bin ich hergekommen? Ich habe doch wohl nicht wieder angefangen, im Schlaf umherzugehen? Ach, jetzt fällt mir ein, ich habe ja von dir geträumt, Onkel Einar (das war ja wahr, dachte Kalle).

Entschuldige vielmals, daß ich dich gestört habe.«

Onkel Einar hatte den Revolver weggesteckt. Er klopfte Kalle auf die Schulter.

»Jaja, mein lieber Meisterdetektiv«, sagte er. »Ich glaube, es sind alle deine Detektivideen, die dich im Schlaf umherwandern lassen. Bitte deine Mutter, daß sie dir etwas Brom gibt, bevor du schlafen gehst. Du wirst sehen, das hilft. Jetzt ist es wohl am besten, ich begleite dich hinaus.«

Onkel Einar ging mit ihm die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Kalle verbeugte sich. Eine Sekunde später schlüpfte er durch den Zaun in einer Fahrt wie ein eingeseiftes Kaninchen.

»Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er. Er fühlte sich wie ein Mensch, der eben aus schwerer Seenot gerettet worden ist. Seine Beine zitterten so merkwürdig. Er konnte sich gerade eben die Treppe hinaufschleppen, und als er in sein Zimmer kam, sank er aufs Bett. »Ich bin klein, mein Herz ist rein …« flüsterte er wieder. So saß er lange.

Ein gefährlicher Beruf, der Detektivberuf! Manche glauben, das sei reine Routinearbeit – so einfach ist das nicht! Stets und ständig wird man vor offene Revolvermündungen gestellt, ja, wahrhaftig!

Kalles Beine fingen langsam an, sich wieder normal zu fühlen.

Der lähmende Schreck war fort. Er steckte die Hand in die Hosentasche. Da lag das kostbare Papier. Kalle hatte keine Angst mehr. Er war glücklich. Ganz vorsichtig nahm er das kleine Stück Papier und legte es in den linken Schreibtischkasten. Da lagen schon der Dietrich und die Zeitung und die Perle. Eine Mutter, die ihre Kinder betrachtet, konnte keinen wärmeren Augenaus-druck haben als Kalle, wenn er auf den Inhalt des Kastens blicke.

Er verschloß ihn sorgfältig und steckte den Schlüssel ein. Dann nahm er sein Notizbuch hervor und schlug Onkel Einars Seite auf. Da war wieder ein kleiner Nachtrag nötig. »Besitzt Revolver«, schrieb Kalle. »Schläft mit ihm unter dem Kopfkissen.«

Um diese Zeit des Jahres frühstückte Familie Lisander auf der Veranda. Sie hatten gerade angefangen, als Anders und Kalle in der Nähe auftauchten, um Eva-Lottes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kalle hätte gern gewußt, ob Onkel Einar etwas von seinem nächtlichen Besuch erwähnen würde. Aber Onkel Einar aß seine Hafergrütze, als ob nichts geschehen wäre.

»Nein aber, Einar, wie ärgerlich!« sagte Frau Lisander plötzlich. »Ich habe ja vergessen, dir gestern abend das Schlafmittel zu geben!«

SIEBTES KAPITEL

»Das Spaßigste bei einer Sache sind die Vorbereitungen«, hatte Anders unmittelbar nach der Zirkuspremiere konstatiert. Die Vorstellung selbst war sicher sehr spannend und lustig gewesen, aber es waren jedenfalls die Tage vorher, angefüllt mit Proben und intensiven Vorbereitungen, die im Gedächtnis zurückblie-ben. Die gewesenen Zirkuskünstler gingen umher und wußten nicht richtig, was sie anfangen sollten.

Kalle war derjenige, der am wenigsten eine Beschäftigung vermißte. Die Detektivwirksamkeit gab seinen Tagen, und mitunter auch seinen Nächten, Inhalt. Seine Fahndungstätigkeit, die sich bis jetzt nur auf das Allgemeine gerichtet hatte, konzen-trierte sich nun ganz auf Onkel Einar.

Anders und Eva-Lotte sagten oft, sie wünschten, daß Onkel Einar wieder abreisen möchte, aber Kalle sah mit Schrecken dem Tag entgegen, da der Schurke, »sein« Schurke, den Koffer packen und ihn ohne »mystische Person« zurücklassen würde, um die seine Gedanken kreisen konnten. Und es wäre doch sehr ärgerlich, wenn Onkel Einar verschwinden würde, ohne daß Kalle dahintergekommen war, was für eine Art Verbrecher er eigentlich war. Daß er ein Verbrecher war, daran zweifelte Kalle nicht einen Augenblick. Ganz gewiß hatten Kalles frühere Verbrecher sich nach und nach als durchaus eh-renhafte Menschen erwiesen, oder man konnte ihnen jedenfalls keine Missetat nachweisen, aber diesmal war Kalle seiner Sache sicher.