Выбрать главу

»Sie sind ja viel zu alt für mich«, sagte Eva-Lotte recht naseweis.

Anders und Kalle fühlten sich etwas beiseite geschoben. Was war das nur für ein langes, klappriges Stück Unglück, das plötzlich hier auftauchte?

Personalbeschreibung – wollen mal sehen, sagte Kalle für sich.

Aus Prinzip merkte er sich das Aussehen aller unbekannten Personen, die ihm in den Weg kamen. Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich anständige Menschen waren! Personalbeschreibung: braunes, hochgestrichenes Haar, braune Augen, zusammenge-wachsene Augenbrauen, gerade Nase, leicht vorstehende Zähne, kräftiges Kinn, grauer Anzug, braune Schuhe, kein Hut, brauner Reisekoffer, nennt sich Onkel Einar. Das war wohl alles. Nein –er hatte ja eine kleine rote Narbe auf der rechten Wange. Kalle merkte sich alle Einzelheiten.

»Ist deine Mutter zu Hause, Jungfer Naseweis?« fragte Onkel Einar.

»Ja, da kommt sie.«

Eva-Lotte zeigte auf eine Dame, die gerade durch den Garten kam. Sie hatte die gleichen lustigen blauen Augen und das gleiche blonde Haar wie Eva-Lotte.

»Habe ich das Vergnügen, wiedererkannt zu werden?« Onkel Einar verbeugte sich.

»Was in aller Welt – bist du es, Einar? Es ist, weiß Gott, eine Weile her, seit man dich gesehen hat. Wo kommst du her?«

Frau Lisanders Augen waren ganz groß vor Überraschung.

»Vom Mond«, sagte Onkel Einar. »Um euch in eurem ruhigen Winkel etwas aufzuheitern.«

»Er kommt gar nicht vom Mond«, sagte Eva-Lotte ärgerlich.

»Er ist mit dem Sechsuhrzug gekommen.«

»Der gleiche alte Spaßmacher«, sagte Frau Lisander. »Aber warum hast du nicht geschrieben, daß du kommen willst?«

»Nein, kleine Kusine, schreibe niemals etwas, was du persönlich ausrichten kannst, das ist mein Wahlspruch. Du weißt, ich bin einer von denen, die tun, was ihnen gerade einfällt. Gerade jetzt fand ich, daß es schön wäre, eine Zeitlang Ferien zu machen, und da fiel mir plötzlich ein, daß ich eine ungewöhnlich nette Kusine habe, die in einer ungewöhnlich netten kleinen Stadt wohnt. Willst du mich aufnehmen?«

Frau Lisander überlegte schnell. Es war nicht so leicht, stehenden Fußes Gäste aufzunehmen. Na ja, er konnte das Giebelzimmer haben.

»Mit einer ungewöhnlich netten kleinen Tochter«, sagte Onkel Einar und kniff Eva-Lotte in die Wange.

»Ach, laß doch das sein«, sagte Eva-Lotte, »das tut ja weh!«

»Das war auch beabsichtigt«, sagte Onkel Einar.

»Ja, natürlich bist du willkommen«, sagte Frau Lisander.

»Wie lange hast du Ferien?«

»Nja, das ist noch nicht bestimmt. Offen gesagt, ich habe die Absicht, mit meiner Firma Schluß zu machen. Ich denke beinahe daran, ins Ausland zu gehen. In diesem Land hier hat man keine Zukunft. Hier stehen alle und treten auf dem gleichen Fleck.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Eva-Lotte hitzig. »Dieses Land ist das beste von allen.«

Onkel Einar legte den Kopf auf die Seite und schaute Eva-Lotte an.

»Wie du gewachsen bist, kleine Eva-Lotte«, sagte er und ließ gleich darauf wieder sein wieherndes Gelächter hören. Eva-Lotte fing bereits an, es herzlich zu verabscheuen.

»Die Jungen können dir damit helfen«, sagte Frau Lisander mit einem Nicken zum Reisekoffer hin.

»Nee, nee, den trage ich lieber selbst«, sagte Onkel Einar.

In dieser Nacht wurde Kalle durch eine Mücke geweckt, die ihn in die Stirn gestochen hatte. Und da er nun ohnehin wach war, hielt er es für klug, nachzusehen, ob vielleicht einige Schurken und Banditen ihr verbrecherisches Spiel in der Nähe trieben.

Zuerst sah er durch das Fenster auf die Hauptstraße hinaus. Da war alles öde und leer. Dann ging er ans andere Fenster und guckte durch die Gardine in Bäckermeisters Garten. Das Haus lag dunkel und schlafend zwischen blühenden Apfelbäumen.

Nur im Giebelzimmer war Licht. Und gegen die Rollgardine zeichnete sich der dunkle Schatten eines Mannes ab.

»Onkel Einar, ph, wie blöd der ist«, sagte Kalle für sich.

Der dunkle Schatten wanderte hin und her, hin und her ohne Unterbrechung. Er war sicher eine unruhige Natur, der Onkel Einar! »Warum trabt er bloß so herum?« dachte Kalle, und im nächsten Augenblick schoß er wieder in sein eigenes schönes Bett hinein.

Schon um acht Uhr am Montagmorgen hörte er Anders’

Pfeifen vor dem Fenster. Sie hatten ein gemeinsames Signal, Anders und er und Eva-Lotte. Kalle schlüpfte schnell in seine Sachen. Ein neuer, herrlicher Ferientag lag vor ihm, ohne Sorgen, ohne Schule und ohne andere Pflichten, als die Erdbeeren zu gießen und ein Auge auf eventuelle Mörder in der Umgebung zu haben. Nichts davon war besonders anstrengend.

Das Wetter war strahlend. Kalle trank ein Glas Milch und aß ein Butterbrot und stürzte zur Tür, bevor seine Mutter dazu kam, auch nur die Hälfte der Ermahnungen vorzubringen, die sie ihm gleichzeitig mit dem Frühstück zu servieren beabsichtigt hatte.

Jetzt galt es nur, Eva-Lotte herauszubekommen. Aus irgendeinem Anlaß fanden Kalle und Anders es nicht ganz passend, hineinzugehen und direkt nach ihr zu fragen. Strenggenommen war es ja nicht einmal passend, daß sie mit einem Mädchen spielten. Aber da war nichts zu machen. Alles war viel lustiger, wenn Eva-Lotte mit dabei war. Sie war übrigens nicht diejenige, die vor einem Spaß zurückscheute. Sie ging ebenso drauflos und war ebenso flink wie irgendein Junge. Als der Wasserturm um-gebaut wurde, war sie auf das Holzgerüst ebenso hoch raufge-klettert wie Anders und Kalle, und als Schutzmann Björk sie bei ihrem Unternehmen entdeckte und ihnen zurief, daß es wohl am sichersten wäre, augenblicklich herunterzukommen, setzte sie sich ruhig ganz vorn auf ein Brett, wo jeder andere schwind-lig geworden wäre, und sagte lachend:

»Kommen Sie rauf und holen Sie uns!«

Sie hatte wohl nicht gedacht, daß Schutzmann Björk sie beim Wort nehmen würde. Aber Schutzmann Björk war der Beste im Sportklub, und es kostete ihn nicht viele Sekunden, zu Eva-Lotte heraufzukommen.

»Bitte deinen Vater, daß er dir ein Trapez kauft, an dem du herumklettern kannst«, sagte er. »Denn wenn du von dem runterfällst, hast du wenigstens einigermaßen Aussicht, dir nicht den Hals zu brechen.«

Dann nahm er sie kräftig um den Leib und kletterte mit ihr hinunter. Anders und Kalle hatten sich schon mit bemerkenswerter Geschwindigkeit hinunterbegeben. Seitdem mochten sie Schutzmann Björk gern. Und – wie gesagt – sie mochten Eva-Lotte auch gern, ganz abgesehen davon, daß sie beide sich mit ihr verheiraten wollten.

»Denn das war ja wirklich mutig von ihr«, sagte Anders, »so etwas zu einem Polizisten zu sagen. Das hätten nicht viele Mädels getan. Viele Jungens übrigens auch nicht!«

Und an dem dunklen Herbstabend, als sie vor dem Haus des giftigen Kontorchefs, der immer so böse zu seinem Hund war, auf der Harzgeige spielten, da war Eva-Lotte vor seinem Fenster stehengeblieben und hatte mit ihrem Harzstück auf dem Draht gerieben, bis der Kontorchef herausgelaufen kam und sie beinahe auf frischer Tat ertappt hätte. Aber Eva-Lotte war schnell über den Zaun geschossen und in die Bootsgasse verschwunden, wo Anders und Kalle auf sie warteten. Nein, an Eva-Lotte war nichts auszusetzen, darüber waren sich Anders und Kalle einig.

Anders ließ einen neuen Pfiff ertönen in der Hoffnung, daß es Eva-Lotte drinnen hören würde. Das tat sie auch. Sie kam heraus. Aber zwei Schritte hinter ihr kam Onkel Einar.

»Darf der kleine artige Junge hier auch mitspielen?« fragte er.

Anders und Kalle schauten ihn etwas verlegen an.

»Ausreißer und Einfänger zum Beispiel«, wieherte Onkel Einar. »Ich will am liebsten Ausreißer sein.«