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»Aber du verstehst doch wohl, daß es notwendig wurde«, sagte er zu Eva-Lotte.

Eva-Lotte nickte zustimmend. »Es war absolut notwendig«, beruhigte sie ihn. »Unser Chef war in großer Gefahr. Und der Großmummrich auch. Es war also wirklich nötig.«

Bei Jonte hatten sie inzwischen eine Taschenlampe hervorge-kramt. Mit Verbitterung stellten die Roten fest, daß ihr Gefangener entwischt war.

»Verschwunden!« schrie Sixtus und raste zum Fenster.

»Welcher verdammte Läusepudel hat die Lampe zerschossen?«

Er hätte nicht zu fragen brauchen. Die Sünder standen, zwei schwarze schmale Silhouetten, auf dem Dach gegenüber. Die Silhouetten begannen einen schnellen Rückzug. Sie hatten soeben Anders’ Pfeifsignal gehört und verstanden, daß er frei war.

Nun sausten sie in lebensgefährlicher Hast über das Dach. Es galt, von dem Dach herunter und in Sicherheit zu kommen, bevor die Roten unten waren, um sie in Empfang zu nehmen. Sie liefen ohne Furcht im Dunkel den Dachfirst entlang und bewegten sich mit der Geschmeidigkeit, die ein wildes und glückliches Leben ihren mutigen jungen Körpern geschenkt hatte.

Sie erreichten die Leiter und kletterten in rasender Eile abwärts.

Eva-Lotte zuerst, danach Kalle, dicht hinterdrein. An Gren dachten sie überhaupt nicht mehr. Ihre Gedanken waren bei den Roten. Grens Fenster war ohne Licht. Der Fremde schien gegangen zu sein.

»Beeile dich, ich hab’s eilig«, flüsterte Kalle inständig über Eva-Lotte.

Da fuhr mit einem Knall Grens Jalousie in die Höhe, und der Alte sah heraus. Das geschah so unerwartet und erschreckte sie so furchtbar, daß Kalle plötzlich seinen Halt verlor. Mit kra-chendem Plumps schlug er unten auf und hätte beinahe Eva-Lotte mit sich gerissen.

» So eilig hast du es nun doch wieder nicht«, sagte Eva-Lotte sarkastisch. Sie hielt sich krampfhaft an der Leiter fest, um nicht auch noch hinunterzufallen, und wandte dabei Gren ein bitten-des Gesicht zu.

Gren aber sah mit seinen traurigen Greisenaugen auf Kalle, der am Boden lag und nach Luft schnappte, und sagte mit noch traurigerer Greisenstimme: »Ja, ja, der Kindheit glückliche Spiele. Der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele. Ja, ja.«

SECHSTES KAPITEL

Eva-Lotte und Kalle hatten keine Zeit, Gren zu erklären, warum sie seine Leiter benutzten, und er selbst schien nichts sonderlich Bemerkenswertes oder Unnatürliches daran zu finden.

Wahrscheinlich sah er ein, daß der Kindheit glückliche, unschuldige Spiele es ab und zu erforderlich machten, hier und dort in der Nachbarschaft auf Leitern und auf Dächern herumzuklettern. Kalle und Eva-Lotte verabschiedeten sich hastig und liefen davon, so schnell sie konnten. Aber Gren schien es nicht zu bemerken. Er seufzte nur still in sich hinein und ließ die Jalousie herunter.

In der dunklen Gasse hinter Grens Haus vereinigten sich die drei Streiter der Weißen Rose. Sie drückten sich die Hände, und der Chef sagte: »Gut gemacht, ihr Tapferen!«

Dann aber galt es zu fliehen. Schon hörte man am andern Ende der Gasse einen Lärm, der ständig an Stärke zunahm. Das waren die Roten, die endlich zur Besinnung gekommen waren und nun nach Rache schrien.

Um diese Zeit waren die Bewohner des Rackerberges schon zu Bett gegangen und schliefen. Nun schossen sie schlaftrunken und aufgescheucht in ihren Betten hoch. War es die Wilde Jagd, die dort draußen vorüberraste? Ach, es waren nur drei edle Ritter der Weißen Rose, die mit gewaltigen Sprüngen über das Kopfsteinpflaster der Gasse setzten. Und fünfzig Meter hinter ihnen taten drei gleich edle Ritter der Roten Rose dasselbe. Deren Sprünge waren nicht minder gewaltig, und deren gellende und giftige Schreie hatten eine Tragweite, die kaum von der modernsten Feuerwehrsirene erreicht wurde.

Kalle fühlte ein wildes Entzücken in der Brust, als er so durch das Dunkel lief. Das war ein Leben – oh, fast so spannend wie Verbrecher fangen. Verbrecher fangen konnte man nur in der Phantasie. In Wirklichkeit gab es sicher keine, so wie es zur Zeit hier aussah. Aber das hier war Wirklichkeit: das Dröhnen der Fü-

ße der Verfolger hinter ihm, Anders’ und Eva-Lottes keuchende Atemzüge, das holprige Straßenpflaster unter seinen Sohlen, die dunklen kleinen Gassen und die düster lockenden Höfe und Schlupfwinkel, wo man sich verstecken konnte – ja, das alles zusammen war herrlich, und es würde eine spannende Jagd werden.

Das Allerschönste aber war, zu spüren, wie genau sein Körper ihm gehorchte, wie schnell seine Beine sich bewegten und wie leicht sein Atem ging. So hätte er die ganze Nacht laufen können. Er fühlte sich kräftig genug, einer ganzen Koppel von Bluthunden zu entlaufen, wenn es nötig sein sollte. Es fiel ihm ein, daß es noch spannender wäre, allein gejagt zu werden.

Dann könnte man seine Verfolger noch mehr reizen und auf die eine oder andere Weise noch kühner manövrieren.

»Versteckt euch«, sagte er schnell zu Anders und Eva-Lotte.

Anders fand diesen Vorschlag großartig. Alle Möglichkeiten, die Roten anzuführen, waren herzlich willkommen. Als sie die nächste Ecke erreicht hatten, tauchten deshalb Anders und Eva-Lotte blitzschnell in einem Torweg unter und blieben dort still, wenn auch heftig atmend, stehen. Es brauchte einige Sekunden, bevor die Roten um die Ecke kamen. Sie liefen so nahe an Anders und Eva-Lotte vorbei, daß man sie beinahe hätte anfassen können.

»Anzuführen wie Kleinkinder«, stellte Anders fest. »Waren wohl noch nie im Kino, um zu sehen, wie man so was macht.«

»Aber für Kalle wird es schwer werden«, sagte Eva-Lotte und horchte nachdenklich auf das Geräusch der springenden Füße, das jetzt in der Dunkelheit davonlief. Drei böse rote Wölfe, die ein armes, zartes weißes Kaninchen hetzen, dachte sie und war ganz erfüllt von plötzlichem Mitleid.

Eine Weile dauerte es, bis die Roten bemerkten, daß ihnen ein Teil ihrer Beute entging. Aber da war es bereits zu spät. Das einzige, was sie tun konnten, war, ihre Jagd auf Kalle fortzusetzen.

Keiner kann sagen, daß sie nicht das Äußerste leisteten. Sixtus lief wie ein Besessener, und während er lief, schwor er sich hoch und heilig, daß, wenn Kalle diesmal seinem Schicksal entsprin-gen sollte, er, Sixtus, sich einen knallroten Vollbart stehen lassen würde als äußeres Zeichen seiner erbärmlichen Niederlage.

Er dachte allerdings nicht weiter darüber nach, wie er es anstellen sollte, den Bart auf seinem kahlen Jungengesicht zum Sprie-

ßen zu bringen, – er lief und lief.

Das tat Kalle auch. Hin und her in den Gassen des ganzen Rackerberges und immer in wohlüberlegten Winkelsprüngen.

Nie war sein Vorsprung so groß, daß er seine Verfolger abschütteln konnte. Vielleicht wollte er es auch nicht. Sie folgten ihm dicht auf den Fersen, und die ganze Zeit hatte er seine Freude daran, sie sich so nahe zu halten, daß es gefährlich schien.

Es war überall still. Aber durch diese Stille klang plötzlich das Geräusch eines Automotors, der irgendwo in der Nähe angelas-sen wurde. Das setzte Kalle in Erstaunen; denn Autos waren eine Seltenheit auf dem Rackerberg. Wäre der Meisterdetektiv nur nicht so mit dem Krieg der Rosen beschäftigt gewesen und hätte er nicht den Schwarm von Roten Rosen an den Fersen gehabt, so hätte er sicherlich versucht, einen Schimmer von dem Auto zu erwischen. Denn das hatte er seinem erdachten Zuhörer oft genug eingeschärft: »Man kann nicht aufmerksam genug sein, wenn es unerwartete Erscheinungen betrifft.« Leider war jetzt der Meisterdetektiv, wie gesagt, zum Militärdienst einberufen, und er stürmte blindlings weiter, nur schwach an dem Auto interessiert, das sich deutlich entfernte und verschwand.