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Sixtus fing an ungeduldig zu werden. Jonte, der den Schulre-kord über hundert Meter hielt, sollte einen günstigen Augenblick abpassen und versuchen, Kalle zu kreuzen und in Sixtus’ wartende Arme zu treiben.

Und der günstige Augenblick kam. Es gab an einer Stelle eine Sackgasse, und da nahm Jonte seine Chance wahr: In diese Richtung sollte Kalle abbiegen. So geschah es zu Kalles Überraschung, daß er plötzlich in seinem Lauf durch Jonte, der wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, abgestoppt wurde. Er wagte nicht, sich durchzuschlagen, denn selbst wenn ihm dies glücken sollte, würde es doch so viele kostbare Sekunden kosten, daß Sixtus und Benka es geschafft hätten, zu Jontes Unterstützung heranzukommen.

»Na«, schrie Sixtus aus weniger als zehn Schritt Entfernung,

»jetzt bist du reingefallen, jetzt knallt es, glaube ich!«

»Denkst du dir so«, sagte Kalle und schwang sich im letzten Bruchteil einer Sekunde über den Zaun, der die Straße nach der einen Seite abgrenzte.

Er landete in einem dunklen Hof, und schnell wie ein aufgescheuchter Troll rannte er quer hinüber. Die Roten waren ihm auf den Fersen! Er hörte dumpf, wie sie über den Zaun setzten.

Aber er blieb nicht stehen, um zu horchen. Er war zu sehr damit beschäftigt, nach einer Gelegenheit auszuspähen, wie er wieder auf die Straße hinauskommen konnte, ohne hier an der anderen Seite über den Zaun zu müssen. Denn wie nun auch der Besitzer dieses Zaunes heißen mochte – er hatte auf jeden Fall eine sehr verkehrte Einstellung zu dem Krieg zwischen den Weißen und Roten Rosen. Sonst hätte er bestimmt nicht seinen Zaun mit einem so widerlichen Stacheldraht gesichert.

»Lieber Himmel, was tue ich nur?« flüsterte Kalle ratlos vor sich hin. Zeit zum Überlegen hatte er nicht. Was geschehen sollte, mußte augenblicklich geschehen. Er kroch schnell hinter eine Kehrichttonne und hockte dort mit wild klopfendem Herzen. Vielleicht gab es den Schimmer einer Möglichkeit, daß ihn die Roten nicht entdeckten. Aber sie waren absolut in seiner Nähe. Sie flüsterten halblaut miteinander und suchten, suchten nach ihm in der Dunkelheit.

»Über den Zaun kann er nicht geklettert sein«, sagte Jonte.

»Sonst würde er noch im Stacheldraht hängen. Das weiß ich genau – ich habe Erfahrung, weil ich es selbst einmal versucht habe.«

»Der einzige Ausgang aus dem Hof ist dort durch die Veranda des Hauses«, sagte Sixtus.

»Die Veranda der alten Karlsson – schrecklich!« stöhnte Jonte, der den Rackerberg und seine Bewohner nach Strich und Faden kannte. »Die alte Karlsson ist wie eine giftige Spinne –schrecklich!«

Was ist schlimmer, dachte Kalle hinter seiner Tonne, von den Roten oder von der Karlsson geschnappt zu werden? Das möchte ich zu gern wissen. Die Roten suchten weiter.

»Ich bin sicher, daß er hier irgendwo auf dem Hof steckt«, beteuerte Benka. Er schnüffelte überall umher, und schließlich entdeckte er Kalles Schatten hinter der Kehrichttonne.

Benkas Jubelschrei, wild, aber gedämpft, erweckte neues Leben in Sixtus und Jonte. Noch mehr: erweckte es auch bei Frau Karlsson! Diese Dame war schon seit geraumer Zeit durch eigenartiges Gepolter in ihrem Hinterhof beunruhigt worden, und sie war nicht gewillt, das eigenartige Gepolter in ihrem Hinterhof zu dulden, wenn sich dagegen etwas tun ließ.

Kalle hatte sich zu diesem Zeitpunkt dafür entschieden, daß selbst das größte Risiko immer noch besser war, als von den Roten gefangengenommen zu werden, und mochte daraus auch ein ausgewachsener Hausfriedensbruch bei der auf dem Rackerberg am meisten gefürchteten Person entstehen. Er entglitt mit einigen Millimetern Zwischenraum Sixtus’ greifenden Fäusten und setzte mit einem Hechtsprung in Frau Karlssons Veranda, um von dort weiter auf die Straße zu schlüpfen. Aber jemand kam ihm in der Dunkelheit entgegen. Und dieser Jemand war Frau Karlsson! Sie war in persönlicher Angelegenheit unterwegs: Sie wollte dem geheimnisvollen Gepolter ein Ende bereiten, gleichviel, ob Ratten oder Einbrecher oder seine Majestät der König selbst die Urheber waren. Frau Karlsson war nämlich der Meinung, daß auf gerade diesem Hinterhof kein anderer berechtigt war, geheimnisvoll zu poltern als nur sie selbst.

Als Kalle wie ein aufgeschreckter Hase angesaust kam, war Frau Karlsson allerdings so überrascht, daß sie ihn vor Erstaunen glatt an sich vorbeiließ. Aber ihm auf den Fersen folgten Sixtus und Benka und Jonte, und sie alle landeten in Frau Karlssons ausgebreiteten Armen. Sie preßte sie an sich und schrie mit der Stimme eines Feldwebels:

»Aha, hier rennen kleine Strolche umher! Auf meinem Grund und Boden! Das geht zu weit! Das geht entschieden zu weit!«

»Verzeihung«, sagte Sixtus, »wir wollten nur …«

» Was wolltet ihr nur?« schrie Frau Karlsson. »Was wolltet ihr nur … nur auf meinem Hof – was?«

Mit einiger Mühe gelang es den dreien, sich aus ihrer eisernen Umarmung zu befreien.

»Wir wollten nur …« stammelte Sixtus, »wir wollten … Wir haben uns verirrt … Es war so dunkel, ja!«

Und damit rannten sie weiter, ohne auf Wiedersehen zu sagen.

»So! Versucht es nur, euch noch einmal auf meinem Hof zu verirren!« rief ihnen Frau Karlsson nach. »Dann werde ich euch von der Polizei auf den rechten Weg bringen lassen – damit ihr es wißt!«

Aber die Roten Rosen hörten nichts mehr. Sie waren schon draußen auf der Straße. Wo war jetzt Kalle? Sie blieben stehen und horchten. In einiger Entfernung hörten sie das leichte Tapp-Tapp seiner Füße und folgten ihm schnell.

Zu spät entdeckte Kalle, daß er wieder in einer Sackgasse war. Diese kleine Straße endete ja unten am Fluß – das hatte er vergessen! Natürlich konnte er sich ins Wasser stürzen und an das andere Ufer schwimmen, aber das brachte unnötigen Ärger wegen der nassen Kleider mit sich, wenn man nach Hause kam.

Auf jeden Fall wollte er erst andere noch mögliche Auswege bedenken.

Friedrich mit dem Fuß! Das war der rettende Gedanke.

Friedrich mit dem Fuß wohnt in dem kleinen Haus. Er wird mich sicher verstecken, wenn ich ihn darum bitte. Friedrich mit dem Fuß war der gutmütigste Strolch der Stadt und ein großer Gönner der Weißen Rosen. Wach war er noch, denn es schien Licht aus seinem Fenster. Ein Auto stand vor der Tür.

Merkwürdig, wie viele Autos heute abend auf dem Rackerberg waren! Hatte er dieses vorhin gehört? wunderte sich Kalle.

Lange Zeit zum Überlegen hatte er aber nicht. Schon hörte er, wie seine Feinde die Straße entlanggaloppierten. Er besann sich also nicht mehr lange, sondern riß die Tür zu Friedrichs Wohnung auf und stürzte hinein.

»Guten Abend, Friedrich«, begann er eilig, unterbrach sich aber sofort. Friedrich war nicht allein. Friedrich lag in seinem Bett, und bei ihm saß Doktor Forsberg und fühlte Friedrichs Puls. Und Doktor Forsberg, der Stadtarzt, war niemand anders als Benkas Vater.

»Ergebenster Diener, Karlchen«, sagte Friedrich mit dem Fuß matt. »Hier liegt ein fremder Friedrich. Elend und schlechter als schlecht. Sterbe sicher bald. Du solltest nur mal hören, wie es in meinem Bauch rumort.«

Bei anderer Gelegenheit wäre es für Kalle ein Vergnügen gewesen zu hören, wie es in Friedrichs Bauch rumorte, aber im Augenblick war es das nicht. Doktor Forsberg schien ein wenig nervös über die Unterbrechung, und Kalle konnte verstehen, daß er mit Friedrich allein sein wollte, wenn er ihn untersuchte.

Es blieb ihm anscheinend nichts anderes übrig, als sich erneut in die Gefahren der Straße zu stürzen.

Aber Kalle hatte die Intelligenz der Roten unterschätzt. Sie rechneten sich sofort aus, daß er zu Friedrich geflohen war, und nun kamen sie eilends hinterher. Benka war der erste. »Ha, du Läusepudel, habe ich dich endlich auf frischer Tat ertappt?« schrie er.

Doktor Forsberg wandte sich um und sah direkt in das erhitz-te Gesicht seines Sohnes. »Sprichst du mit mir?« fragte er.