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Benkas Kinnlade verlor vor Bestürzung ihren Halt – antworten konnte er nicht.

»Handelt es sich um eine Art Stafettenlauf durch Friedrichs Krankenzimmer«, fuhr Doktor Forsberg fort, »oder warum rennst du so spät noch umher?«

»Ich … ich … ich wollte nur sehen, ob du einen Krankenbesuch machst«, sagte Benka endlich.

»Ja, ich mache einen Krankenbesuch«, versicherte ihm sein Vater. »Du hast also tatsächlich, wie du sagtest, den Läusepudel auf frischer Tat ertappt. Aber jetzt ist er fertig, und du gehst mit ihm nach Hause.«

»Nein … aber … Vater!« schrie Benka in höchster Verzweiflung.

Doktor Forsberg schloß in aller Ruhe seine Tasche und griff sodann mild, aber fest in Benkas helles Kraushaar.

»Komm nun, mein Kleiner«, sagte er. »Gute Nacht, Friedrichs-son. Vorläufig sterben Sie noch nicht. Das kann ich Ihnen versprechen.«

Während des ganzen Gesprächs hatte Kalle abseits gestanden, und über sein Gesicht legte sich ein Lächeln, das langsam breiter und breiter wurde. Welch ein Pech für Benka, welch ein großartiges Pech! Genau in die Arme seines Vaters zu laufen!

Nach Hause geführt zu werden wie ein Baby! Gerade jetzt, wo er Kalle schnappen wollte. Das sollte Benka noch oft im Krieg der Rosen schlucken müssen. »Komm nun, mein Kleiner« –mehr brauchte man gar nicht zu sagen.

Und Benka, als er von starken Vaterarmen zur Tür geführt wurde, empfand dies in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Oh, ganz bestimmt, diesmal würde er einen »Leserbrief« an die Ortszeitung senden: »Muß man Eltern haben?« Gewiß, er hatte nichts gegen Vater und Mutter. Er schätzte sie sehr. Aber diese un-wahrscheinliche Pünktlichkeit, mit der Eltern stets im unpas-sendsten Augenblick auftauchten, konnte ja das friedlichste Kind zur Raserei bringen.

Sixtus und Jonte kamen schnaubend die Straße entlang, und Benka flüsterte ihnen zu: »Er ist dort drinnen.«

Danach wurde Benka zu dem wartenden Auto geführt – warum, ach, warum hatte er es nicht vorher gesehen? –, und Sixtus und Jonte starrten ihm nach, die Augen angefüllt mit einem Mitleid ohnegleichen.

»Armer Kerl«, sagte Jonte und seufzte tief.

Dann aber war keine Zeit mehr für Mitleid und Seufzen.

Dreifache Schmerzen über die Weißen Rosen, die sie andau-ernd foppten! Kalle mußte erwischt werden, und das sofort, auf der Stelle! Sixtus und Jonte flitzten hinein zu Friedrich. Dort aber war kein Kalle zu sehen.

»Hallo, Sixtus! Hallo, kleiner Jonte«, sagte Friedrich schwach. »Ihr solltet nur hören, wie es in meinem Bauch rumort. Krank und schlechter als schlecht …«

»Friedrich, hast du Kalle Blomquist gesehen?« unterbrach ihn Sixtus.

»Den Kalle? Ja, der war eben noch hier. Er ist aus dem Fenster gesprungen«, sagte Friedrich und lächelte verschmitzt.

So, der Schurke war aus dem Fenster gesprungen! Richtig, Friedrichs beide Fenster waren geöffnet, und die Gardinen flat-terten im Abendwind.

»Komm, Jonte!« schrie Sixtus aufgeregt. »Hinterher! Es geht um Sekunden!« Und mit einem Hechtsprung sauste jeder aus einem Fenster. Es ging, wie gesagt, um Sekunden.

Im selben Moment hörte man Geplansche und Gebrüll. Sogar Jonte, der doch auf dem Rackerberg geboren war, hatte vergessen, daß die Rückwand von Friedrichs Haus direkt am Fluß stand.

»Kalle, komm jetzt raus«, sagte Friedrich matt, »damit du hören kannst, wie es in meinem Bauch rumort.« Und Kalle kletterte aus dem Wandschrank, vor Vergnügen zitternd. Er lief zum Fenster und beugte sich hinaus.

»Seid ihr sicher, daß ihr schwimmen könnt?« rief er. »Oder soll ich euch Korkwesten holen?«

»Es genügt, wenn du uns deinen Korkschädel herschmeißt!«

Sixtus war wütend und spritzte einen kräftigen Wasserstrahl in Kalles lachendes Gesicht. Kalle wischte sich unbekümmert das Wasser ab und sagte:

»Scheint mollig warm zu sein in der Brühe. Ich denke, ihr solltet eine nervenstärkende Schwimmstunde einlegen.«

»Nee, kommt rein zu mir«, rief Friedrich matt und schwach.

»Kommt rein. Dann könnt ihr hören, wie es bei mir im Bauch rumort.«

»Hej, jetzt haue ich ab«, rief Kalle.

»Ja, hau nur ab, ehe ich dich abhaue«, sagte Jonte bitter und nahm Kurs auf ein Waschhaus in der Nähe. Die Jagd war zu Ende. Sixtus und Jonte wußten das wohl.

Kalle verabschiedete sich von Friedrich und begab sich auf frohen und leichten Füßen nach Hause und in den Nachbargar-ten zu Eva-Lotte. Auf dem Boden über der Bäckerei hatten die Weißen Rosen noch immer ihr Hauptquartier, und aus einer der Bodenluken am Giebel hing noch immer das Seil herab. Da sich ein Ritter der Weißen Rose nicht eines so simplen Weges, wie es die Treppe war, bedienen konnte, kletterte Kalle pflicht-gemäß am Seil hoch, und als Anders und Eva-Lotte ihn hörten, steckten sie eilends die Köpfe durch die offene Bodenluke.

»Aha, du hast es geschafft«, sagte Anders zufrieden.

»Ja, ihr sollt gleich hören«, sagte Kalle.

Über das Hauptquartier, wo allerlei Plunder sich an den Wänden drängte, warf eine Taschenlampe ihren dürftigen Schein. In diesem Schein saßen die drei Weißen Rosen mit gekreuzten Beinen und genossen die Geschichte von Kalles wun-dersamer Rettung.

»Gut gemacht, mein Tapferer«, lobte Anders, als Kalle aufgehört hatte.

»Für den ersten Kriegstag, finde ich, hat die Weiße Rose tadellos abgeschnitten«, sagte Eva-Lotte.

Da hörte man eine Frauenstimme: »Eva-Lotte, wenn du nicht augenblicklich hereinkommst und zu Bett gehst, bitte ich Vater, daß er dich holt.«

»Ja, ja, ich komme«, antwortete Eva-Lotte, und ihre treuen Mitkämpfer erhoben sich, um zu gehen.

»Also wir sehen uns dann morgen«, sagte Eva-Lotte und lachte zufrieden in sich hinein. »Die Rötlichen dachten, sie könnten den Großmummrich erwischen, hahaha!«

»Da haben sie sich aber schön in den Finger geschnitten«, meinte Kalle, ebenfalls lachend.

»Siehe, in dieser Nacht, da fingen sie nichts«, sagte Anders und ließ sich übertrieben würdevoll als letzter am Seil herab.

SIEBTES KAPITEL

Kann es wohl auf der Welt einen Platz geben, der noch schläfriger, ruhiger und an Sensationen ärmer ist als diese kleine Stadt?

dachte Frau Lisander. Aber wie sollte auch in einer solchen Hitze etwas passieren? Sie schlenderte langsam zwischen den Marktständen umher und wählte zerstreut unter den Waren, die dort für die Beschauer ausgebreitet lagen. Es war Markttag, und viele Menschen waren auf den Straßen und dem Markt, und eigentlich hätte die ganze Stadt vor Leben und Treiben bersten müssen. Aber das tat sie nicht. Sie duselte wie immer. Das Wasser im Springbrunnen vor dem Rathaus rieselte schläfrig und leise aus dem Rachen der Bronzelöwen, und die Bronzelöwen selbst sahen auch schläfrig aus. Die Musik im Konditoreigarten unten am Fluß spielte schläfrig und leise eine Art Nachtmusik –mitten am hellen Vormittag. Die Sperlinge, die zwischen den Tischen heruntergefallene Kuchenkrümel aufpickten, hüpften hier und da mit kleinen aufgedunsenen Sprüngen, aber auch sie sahen schläfrig aus.

Alles schläfrig hier, dachte Frau Lisander.

»Es scheint, als wolle es ein Gewitter geben«, sagten die Menschen zueinander.

Da kam Eva-Lotte angesprungen. Endlich ein Mensch, der nicht schläfrig aussieht! dachte Frau Lisander. Sie betrachtete ihre kleine Tochter zärtlich und fing in ihrem Blick alle Einzelheiten auf: das fröhliche Gesicht, die munteren blauen Augen, das blonde zerzauste Haar und die langen braungebrannten Beine, die unter einem hellen, frisch gebügelten Sommerkleid hervorsahen.

»Wo willst du hin?« fragte Frau Lisander und gab ihr eine Handvoll Kirschen.