Выбрать главу

»Das darfst du nicht wissen«, sagte Eva-Lotte, Kerne aus-spuckend. »Geheimer Auftrag! Ungeheuer geheimer Auftrag!«

»Aha! Na, sieh nur zu, daß du rechtzeitig zum Mittagessen zurück bist.«

»Für wen hältst du mich eigentlich?« fragte Eva-Lotte. »Ich bin noch nie zu einem Mittagessen zu spät gekommen, seit ich den Zwiebackbrei versäumte – damals am Tag meiner Taufe!«

Frau Lisander lachte ihr zu. »Du bist mein Liebes«, sagte sie.

Eva-Lotte nickte zu dieser selbstverständlichen Tatsache und setzte ihre Reise über den Markt fort. Kirschkerne markierten ihren Weg.

Die Mutter stand noch einen Augenblick und sah ihr nach.

Und auf einmal hatte sie ein ängstliches Gefühl in der Herzge-gend. Herr Gott, wie schmal war das Mädchen im Genick! Wie sah sie auf irgendeine Weise doch so klein und hilflos aus. Es war wirklich nicht allzulange her, seit sie ihren Zwiebackbrei gegessen hatte, und nun lief sie da umher mit »geheimen Aufträgen«! War das richtig? Sollte man nicht etwas besser auf sie achten?

Frau Lisander seufzte und ging langsam heimwärts. Sie hatte das Gefühl, daß die Wärme sie bald verrückt machen würde, und da war es doch wohl besser, sich in des eigenen Hauses Schutz und Mauern zu befinden.

Eva-Lotte litt gar nicht unter der Hitze. Sie genoß sie genauso, wie sie das Treiben in den Straßen und den Saft der herrlichen Kirschen genoß, der durch ihre Kehle rann. Es war Markttag, und sie mochte Markttage gern. Ja, wenn sie genau nachdachte, mochte sie alle Tage – außer denen, an welchen in der Schule Handarbeitsstunde war. Aber jetzt waren ja Sommerferien!

Sie bummelte langsam über den Markt und die Kleine Straße hinunter zum Fluß, am Konditoreigarten vorbei und der Brücke zu. Eigentlich hatte sie nicht viel Lust, sich vom Zentrum der Ereignisse zu entfernen; aber da war der geheime Auftrag, und der mußte ausgeführt werden. Der Chef hatte ihr nämlich befohlen, den Großmummrich zu holen und an einen günstigeren Platz zu bringen. Bei dem peinlichen Verhör hatte Anders ja beinahe verraten, wo der Großmummrich lag. Und man konnte wetten, daß die Roten jeden Quadratmillimeter Boden untersuchen würden – dort unten am kleinen Pfad hinter dem Herren-haus. Da aber bislang noch kein Jubelschrei aus ihren Kehlen erklungen war, war es doch wohl sicher, daß der Großmummrich noch immer dort war, wo ihn die Weißen hingelegt hatten.

Oben auf einem großen Stein, genau neben dem Pfad, dort lag er in einer kleinen Vertiefung des Steins.

Eigentlich war es ja schändlich einfach, ihn zu finden, meinte Anders. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Roten ihre Krallen um das kostbare Kleinod schlagen würden. Da aber heute Markt war, durfte man annehmen, daß Sixtus und Benka und Jonte am Karussell und an der Schießbude unten auf dem Rummelplatz hinter der Eisenbahnstation festklebten. Heute hatte Eva-Lotte die Chance, den Großmummrich ungestört von seinem nunmehr recht unsicheren Aufbewahrungsplatz holen zu können. Der Chef hatte außerdem schon den neuen Platz für das Kleinod bestimmt: oben in der Schloßruine bei dem Brunnen im Burghof. Das bedeutete, Eva-Lotte sollte in der drük-kenden Gewitterschwüle zuerst den langen Weg über die Prärie machen, dann wieder zurück quer durch die ganze Stadt und danach den steilen Weg zur Ruine empor, die in ansehnlicher Höhe über der Stadt und genau entgegengesetzt vom Herrenhof lag. Tatsächlich, man mußte schon ein hingegebener Ritter der Weißen Rose sein, um sich derartiger Mühsal ohne Murren zu unterziehen. Und Eva-Lotte war hingegeben.

Warum wurde übrigens ausgerechnet Eva-Lotte dieser Auftrag erteilt? Hätte der Chef nicht Kalle schicken können? Nein, ein Vater ohne Einsicht hatte aus Kalle an diesem wichtigen Tag einen Laufburschen und Aushilfsverkäufer für das Lebensmittelgeschäft gemacht. Denn heute kamen die Bauern in die Stadt, um ihre Vorräte an Einmachzucker, Kaffee und Salzheringen zu ergänzen. Hätte da der Chef der Weißen Rose nicht selbst gehen können? Nein, der Chef mußte seinen Vater in der Schuhmacherwerkstatt vertreten. Es gefiel dem Schuhmachermeister Bengtsson nicht, an Markttagen zu arbeiten und dadurch den Tag zu entweihen. An solchen Tagen nahm er sich frei und »fei-erte«. Deshalb konnte aber nicht die Werkstatt geschlossen sein.

Es konnte doch, obwohl Markttag war, jemand kommen und Schuhe bringen, oder es konnte jemand kommen und Schuhe holen. Und deshalb hatte er seinem Sohn fest versprochen, ihn grün und blau zu schlagen, wenn er sich unterstehen würde, auch nur fünf Minuten aus der Werkstatt zu entweichen.

Eva-Lotte, hingegebener Ritter der Weißen Rose, ist es also, die den Auftrag bekommen hat, den geheimen und heiligen Auftrag, den verehrten Großmummrich von einem Versteck in das andere zu überführen. Das ist nicht irgend so ein Auftrag, das ist eine rituelle Handlung, eine Mission. Was macht es da schon, daß die Sonne verzehrend über der Prärie brennt und schwarzblaue Wolken sich am Horizont zusammenzuziehen beginnen? Was macht es da schon, daß man nicht am Marktleben teilnehmen kann, daß man »das Zentrum der Ereignisse« verlassen muß – denn das tat sie doch, als sie bei der Brücke abbog und den Weg zur Prärie nahm …

Tat sie das? Nein, das Zentrum der Ereignisse liegt nicht immer dort, wo das Markttreiben ist. An diesem Tag liegt das Zentrum der Ereignisse woanders. Und Eva-Lotte wandert gerade jetzt auf ihren nackten braunen Beinen genau hinein.

Die Wolken dort fangen an, wirklich drohend auszusehen.

Blauschwarz, häßlich – sie machen einen geradezu etwas ängstlich. Eva-Lotte geht langsam, denn hier draußen auf der Prärie ist es so heiß, daß die Luft zittert.

Hu, die Prärie ist so groß und weit – es kostet ja eine Ewigkeit hinüberzukommen! Aber Eva-Lotte geht nicht allein in dem Sonnenbrand. Sie wird beinahe fröhlich, als sie weit vor sich Gren, den Alten, entdeckt. Man kann sich nicht irren, man sieht, daß das Gren ist. Keiner trottet so wie er. Gren ist, wie es scheint, auch auf dem Weg zum Herrenhof. Sieh an, jetzt biegt er in den kleinen Pfad, der zwischen den Haselnußsträuchern entlangführt, und verschwindet Eva-Lotte aus den Augen. Du großer Nebukadnezar, er ist doch wohl nicht etwa auch drau-

ßen, um den Großmummrich zu suchen – er auch! Eva-Lotte grinst sich eins bei diesem Gedanken.

Dann aber blinzelt sie aufmerksam durch den Sonnendunst.

Von der anderen Seite kommt noch jemand, jemand, der gewiß nicht aus der Stadt sein kann, weil er an dem Weg auftaucht, der sich am Herrenhof vorbei in das flache Land hineinschlängelt.

Ach, das ist ja bestimmt der in den grünen Gabardinehosen!

Klar, heute ist ja Mittwoch. Heute wollte er doch »seine Reser-ven einlösen« oder was er damals sagte, nein, seine »Reverse«, so hießen die Dinger.

Eva-Lotte überlegt, wie es wohl sein mag, wenn man Reverse einlöst. O ja, Prozenterei und Ähnliches, das ist sicher sehr verwik-kelt. Mit was für Blödsinn sich große Menschen beschäftigen …

»Wir treffen uns an der gewohnten Stelle«, hatte er gesagt, der Gabardinejunge. Hier ist das also, hier draußen. Muß es aber durchaus neben dem Großmummrich sein, wie? Gibt es keine anderen Sträucher, wo die beiden sich treffen können, um zu prozenten? Nein, anscheinend nicht. Jetzt verschwinden die Gabardinehosen zwischen den Sträuchern, sie auch.

Eva-Lotte geht noch langsamer. Sie hat keine sonderliche Eile, und es ist wohl besser, wenn der Junge erst in Ruhe und Frieden seine Reverse einlösen kann, bevor sie den Großmummrich holt. Sie geht für ein Weilchen in den Herrenhof hinein.

Während sie wartet, schnüffelt sie ein wenig in den Winkeln herum. Bald wird sicher der Herrenhof wieder Kriegsschauplatz sein, und dann kann es nur gut sein, hier Bescheid zu wissen.

Sie sieht aus einem Fenster an der Rückseite. Oh, der ganze Himmel ist schwarz! Die Sonne ist verschwunden, und von ferne hört man ein gehässiges Grollen. Die ganze Prärie sieht so unheimlich und verlassen aus. Sie muß sich beeilen, sie muß den Großmummrich holen, sie muß nach Hause, bevor das Gewitter ausbricht.