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Und sie läuft zur Tür hinaus, sie läuft, so schnell sie kann, sie läuft hinein in den kleinen Pfad zwischen den Haselsträuchern, sie hört die ganze Zeit das gehässige Gewitter grollen, sie läuft weiter, läuft – – nein, jetzt hält sie plötzlich verwirrt an.

Sie ist genau jemand in die Arme gelaufen, der von der entgegengesetzten Seite kam und es ebenso eilig hatte wie sie. Zuerst sieht sie nur die dunkelgrünen Gabardinehosen und das weiße Hemd. Dann sieht sie auf und in sein Gesicht. Mein Gott, welch ein Gesicht! So bleich, so voller Angst – kann ein großer Kerl wirklich solche Angst vor dem Gewitter haben? Eva-Lotte hat fast Mitleid mit ihm.

Aber es scheint, als wolle er gar nichts von ihr wissen. Er wirft ihr einen schnellen Blick zu, er sieht erschrocken und böse zugleich aus, und jetzt beeilt er sich, auf dem schmalen Pfad an ihr vorbeizukommen.

Eva-Lotte mag es nicht, daß man sie auf diese Art ansieht –als sei sie etwas Lästiges. Sie ist es gewohnt, Gesichter aufleuchten zu sehen, wenn sie bemerkt wird. Und sie wünscht nicht, daß der Kerl verschwindet, ohne daß sie ihm irgendwie klarge-macht hat, daß sie ein freundlicher Mensch ist und wie ein solcher behandelt sein will.

»Verzeihung, wie spät ist es?« fragt sie deshalb höflich, nur um etwas zu sagen und um zu zeigen – ja, daß sie doch eigentlich gut erzogene Menschen sind, wenn sie auch zwischen den Büschen zusammengestoßen sind.

Der Mann zuckt zusammen und bleibt unwillig stehen. Zuerst scheint es so, als wolle er ihre Frage nicht beantworten; aber dann sieht er doch auf seine Armbanduhr und murmelt undeutlich: »Viertel vor eins.« Dann läuft er weiter. Eva-Lotte sieht ihm nach. Sie bemerkt, daß eine Menge Papier aus seiner Hosentasche heraussieht, aus einer seiner dunkelgrünen Gabar-dinehosentaschen.

Nun ist der Mann verschwunden. Aber da liegt ein weißes, zerknittertes Papier auf dem Weg. Er hat es in der Eile verloren. Eva-Lotte hebt es auf und liest neugierig. »Revers« steht ganz zuoberst darauf. Aha, so sehen also die Reverse aus, olala!

War das nun schon etwas, um so ein Theater darum zu machen?

Dann kracht es, kracht entsetzlich, und Eva-Lotte springt vor Schreck in die Luft. Eigentlich hat sie vor Gewittern keine Angst. Aber jetzt, gerade jetzt, hier draußen, ganz allein auf der Prärie! Alles macht plötzlich so einen düsteren, unbehaglichen Eindruck. Zwischen den Sträuchern hier ist es so dunkel. Und selbst in der Luft liegt etwas so Unheimliches, etwas so Unheilverkündendes. Ach, wenn man doch nur zu Hause wäre! Sie muß sich beeilen, riesig beeilen!

Aber zuerst der Großmummrich! Ein Ritter der Weißen Rose tut seine Pflicht, und wenn ihm auch das Herz bis in den Hals hinauf schlägt. Nur noch einige Schritte sind es bis zu dem Stein. Bloß noch an den Büschen vorbei.

Eva-Lotte rennt …

Zuerst kommt es nur wie ein Wimmern über ihre Lippen. Vollkommen steif steht sie da, sieht, sieht und wimmert leise vor sich hin. Vielleicht, oh, vielleicht ist das hier alles nur ein Traum, ein böser Traum. Vielleicht liegt da gar nichts – nichts Zusammengesunkenes – dort – neben dem Stein – –

Dann schlägt sie die Hände vors Gesicht, dreht sich um und läuft, und seltsam entsetzte Laute kommen aus ihrer Kehle. Sie rennt, obwohl die Beine unter ihr zittern. Sie hört nicht den Donner und spürt nicht den Regen, der ihr das Gesicht peitscht.

Sie rennt, wie man in schweren Träumen rennt, um der unbekannten Gefahr hinter sich zu entkommen. Über die Prärie.

Über die Brücke. Durch die bekannten Straßen, die plötzlich leer und verlassen im Gewitterregen liegen.

Zu Hause! Zu Hause! Endlich! Sie stößt die Gartentür auf.

Dort in der Bäckerei ist Vater. Dort steht er an seinen Blechen in seinem weißen Bäckeranzug. Er ist groß und ruhig wie immer, und man wird mehlig, wenn man in seine Nähe kommt.

Vater ist immer derselbe, wenn die Welt auch sonst häßlich und verändert ist, wenn es auch unmöglich geworden ist, in ihr noch zu leben. Wild wirft sich Eva-Lotte in seine Arme, preßt sich an ihn, schlingt ihre Arme um seinen Hals, ganz fest, ganz fest, versteckt ihr tränenüberströmtes Gesicht an seiner Achsel und wimmert leise:

»Vater, lieber guter Vater! Hilf mir! Der alte Gren …«

»Kindchen, Kleines, was ist mit Gren?«

Und noch leiser, fast erstickt, kommt es von Eva-Lottes Lippen: »Er liegt draußen auf der Prärie – tot …«

ACHTES KAPITEL

War das die Stadt, die so schläfrig war, so ruhig und so still?

Jetzt nicht mehr. Innerhalb einer Stunde hatte sich alles verändert. Die ganze Stadt summte wie ein Bienenschwarm, Polizeiautos fuhren hin und her, Fernsprecher klingelten, die Menschen redeten und rätselten herum und waren aufgeregt und wunderten sich und fragten Schutzmann Björk, ob es wahr sei, daß man den Mörder schon gefaßt habe. Und sie schüttelten bekümmert die Köpfe und sagten: »Ja, ja, daß es dem armen alten Gren einmal so ergeben würde …« Oder: »Ja, ja, es wurde so allerhand über ihn gemunkelt … Wer sich mit dem Teufel abgibt … Jedenfalls kein Wunder, daß ihm das passiert ist …«

Und: »Auf jeden Fall … eine entsetzliche Sache!«

Ganze Scharen neugieriger Menschen strömten hinaus zur Prärie. Das ganze Gebiet um den Herrenhof aber war inzwischen durch die Polizei abgesperrt worden. Da kam niemand hindurch. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit hatte die Staatspolizei ihre Leute an den Tatort gebracht. Die Untersuchung war in vollem Gang. Alles wurde fotografiert, jeder Meter Boden wurde untersucht, jede Beobachtung protokolliert. Gab es Spuren des Mörders, Fußspuren oder andere? Nein, nichts! Wenn es jemals welche gegeben hatte, waren sie durch den heftigen Regen zerstört worden. Es fand sich nichts, nicht so viel wie ein weggeworfener Zigarettenstummel, als Spur des Verbrechers.

Der Gerichtsarzt, der die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche vornahm, stellte fest, daß Gren durch einen Schuß in den Rücken getötet worden war. Die Brieftasche und die Uhr wurden bei dem Ermordeten gefunden. Ein Raubmord schien nicht vorzuliegen.

Der Kriminalkommissar hatte versucht, die »Kleine, die das Verbrechen entdeckt hatte«, zu sprechen; aber Doktor Forsberg ließ es nicht zu. Sie hatte einen Nervenschock erlitten und mußte Ruhe haben. Der Kommissar war über diese Verzögerung enttäuscht; aber er mußte sich dem ärztlichen Verbot fügen.

Doktor Forsberg konnte ihm allerdings erzählen, daß das Mädchen geweint und mehrere Male gesagt habe: »Er hat grüne Gabardinehosen an.« Sie konnte damit nur den Mörder meinen.

Aber man konnte doch wohl nicht den Fahndungsdienst über das ganze Land in Bewegung setzen – nur wegen ein Paar grüner Gabardinehosen. War es wirklich der Mörder gewesen, den das Mädchen gesehen hatte (für den Kommissar war das nicht ganz sicher), so hatte er sicherlich jetzt seine grünen Hosen schon längst gegen andere vertauscht. Trotzdem ließ der Kommissar sämtliche Polizeistationen benachrichtigen, man solle auf alle grünen Gabardinehosen, die sich verdächtig machten, ein Auge haben. Im übrigen galt es, alle nur möglichen Routinear-beiten zu erledigen und zu hoffen, das Mädchen möchte sich schnell wieder so weit erholen, daß es verhört werden konnte.

Eva-Lotte lag in Mutters Bett, an dem ruhigsten Platz, den es gab. Doktor Forsberg war bei ihr gewesen, und sie hatte ein Pulver bekommen, damit sie »ohne böse Träume« schlafen könne. Außerdem hatten Vater und Mutter versprochen, jeder auf einer Seite des Bettes zu sitzen – die ganze Nacht über.