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Und dennoch – wild jagten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Oh, wäre sie doch nie zum Herrenhof gegangen! Jetzt war alles zu Ende. Nie mehr würde es etwas Schönes in der Welt geben. Wie konnte noch etwas schön sein, wenn Menschen sich so Böses antaten? Gewiß, sie hatte vorher schon gewußt, daß solche Dinge geschehen konnten; aber sie hatte es nicht so wie jetzt gewußt. Ach, wie oft hatten sie und Anders Kalle geärgert und von Mördern gesprochen, so leicht, als sei es etwas Lustiges und Komisches, etwas, womit man Witze machen konnte. Es war entsetzlich, jetzt daran zu denken. Nie mehr würde sie so etwas mitmachen. So etwas durfte man nicht, zum Spaß sagen.

Damit zog man vielleicht das Böse an, so daß es dann in Wirklichkeit geschah. Oh, daran zu denken, daß es womöglich ihre Schuld war, daß Gren … daß Gren … Nein, sie wollte nicht daran denken. Aber sie wollte ein anderer Mensch werden. Ja, ja, das wollte sie. Sie wollte etwas mehr Frau sein, mädchenhafter, wie Onkel Björk gesagt hatte. Nie mehr wollte sie in einem Krieg der Rosen mitmachen. Denn war nicht gerade der Krieg der Rosen die Ursache, daß sie in diese Dinge hineingeraten war

– diese Dinge, an die man nicht denken durfte, wenn einem der Schädel nicht platzen sollte? Nein, für sie sollte Schluß sein mit dem Krieg. Sie wollte nie mehr spielen. Nie mehr! Oh, wie trostlos würde das sein!

Tränen stiegen ihr aufs neue in die Augen, und sie nahm die Hand der Mutter.

»Mutti, ich fühle mich so alt«, sagte sie und weinte. »Ich fühle mich beinahe wie sechzehn.«

Dann schlief sie ein. Aber bevor sie in die barmherzige Bewußtlosigkeit sank, überlegte sie noch ein wenig, was wohl Kalle jetzt denken mochte. Kalle, der jahrelang Mörder gejagt hatte!

Was tat er wohl, wenn wirklich einer auftauchte?

Meisterdetektiv Blomquist erfuhr davon, als er hinter seines Vaters Ladentisch dabei war, zwei Salzheringe für einen Kunden in eine Zeitung zu wickeln. In dem Augenblick nämlich kam Frau Karlsson vom Rackerberg durch die Tür gesegelt, zum Platzen gefüllt mit Neuigkeiten und berstend vor Sensati-onslust. Und innerhalb von zwei Minuten war der ganze Laden ein kochender Topf voll von Fragen und Ausrufen und Grauen.

Jeder Verkauf stockte. Alle im Laden drängten sich um Frau Karlsson. Und sie plapperte und erzählte, daß der Speichel schäumte. Alles, was sie wußte, und mehr dazu.

Meisterdetektiv Blomquist, er, der über die Sicherheit der Stadt wachen sollte, stand hinter dem Ladentisch und hörte zu.

Er sagte nichts. Er fragte nichts. Er war wie versteinert. Als er genug gehört hatte, schlich er sich unbemerkt hinaus in den La-gerraum und sank auf eine leere Kiste.

Lange saß er da. Sprach er vielleicht mit seinem erdachten Zuhörer? Das wäre doch jetzt so passend gewesen. Nein, das tat er nicht. Er sprach überhaupt nicht. Aber er dachte an das eine und das andere.

Kalle Blomquist, dachte er, du bist ein Wicht, ein lächerlicher kleiner Wicht. Das bist du haargenau! Meisterdetektiv – nicht viel mehr als meine alten Pantoffeln! Hier können die verab-scheuungswürdigsten Verbrechen geschehen; aber du stehst ruhig hinter dem Ladentisch und wickelst Salzheringe ein. Weiter so, nur weiter so, dann tust du doch wenigstens etwas Nützliches!

Da saß er nun, den Kopf in die Hände gestützt, düster grü-belnd. Ach, warum hatte er nur gerade heute im Geschäft sein müssen! Sonst hätte Anders sicher ihn an Stelle von Eva-Lotte geschickt. Und dann wäre er es gewesen, der das Verbrechen entdeckt hätte. Oder wer weiß – vielleicht wäre er so rechtzeitig gekommen, daß er es verhindert hätte? Er hätte dann den Verbrecher unter vielen guten Ermahnungen hinter Schloß und Riegel gebracht. So, wie er es immer tat.

Aber mit einem tiefen Seufzer erinnerte er sich, daß es nur in der Phantasie war, daß er es »immer so tat«. Und dann begriff Kalle erst tatsächlich, was geschehen war. Er begriff es mit einem Ruck, der ihm die Lust nahm, weiterhin Meisterdetektiv zu spielen. Das hier war kein Phantasiemord, den man auf elegante, leichte Art aufklären konnte, um sich vor seinem erdachten Zuhörer wichtig zu machen. Das hier war eine erschreckende, häßliche, widersinnige Wirklichkeit, die ihn fast krank machte.

Er verachtete sich zwar dafür, aber es war Tatsache, daß er froh war, aufrichtig froh, daß er heute nicht an Eva-Lottes Stelle gewesen war. Arme Eva-Lotte!

Ohne jemand um Erlaubnis zu bitten, verließ er das Haus. Er fühlte, er mußte zu Anders gehen, um mit ihm zu sprechen. Zu versuchen, mit Eva-Lotte zu sprechen, war aussichtslos, das verstand er. »Der Doktor ist bei der Kleinen«, hatte Frau Karlsson gesagt.

Anders wußte gar nichts. Er saß in der Schuhmacherwerkstatt und las »Die Schatzinsel«. Seit dem Vormittag war kein Mensch mehr gekommen. Ein Glück! Anders befand sich nämlich zur Zeit, umringt von bösartigen Piraten, auf einer Insel in der Süd-see und hatte für Riester und Kernledersohlen gar kein Interesse.

Als Kalle die Tür ohne vorherige Warnung aufstieß, starrte ihn Anders daher an, als fürchte er, der einbeinige John Silver stürze herein. Er war total überrascht, als er begriff, daß es nur Kalle war. Er sprang von seinem Dreibein auf und schmetterte unbeschwert:

»Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste – Johoho und die Flasche voll Rum.«

Kalle schauderte. »Schweig«, flüsterte er, »schweig, sage ich.«

»Das sagt der Gesangslehrer auch immer, wenn ich anfange zu singen«, bestätigte Anders friedfertig. Es schien, als wolle Kalle etwas sagen, aber Anders kam ihm zuvor. »Hast du gehört, ob Eva-Lotte schon den Großmummrich geholt hat?«

Kalle sah ihn erstaunt an. Wieviel Blödsinn würde Anders noch vom Stapel lassen, bevor Kalle dazu kam, etwas zu berichten? Wieder nahm Kalle einen Anlauf, aber Anders hinderte ihn wieder. Zu lange hatte er stillsitzen müssen, und jetzt sprudelte die Redelust in ihm. Er nahm die »Schatzinsel« und hielt sie Kalle unter die Nase.

»Junge, Junge, das ist ein Buch«, sagte er. »Das ist spannend, irrsinnig spannend! Mensch, damals hätte man leben sollen!

Welche Abenteuer! Heutzutage passiert rein gar nichts mehr!«

»So, gar nichts passiert?« sagte Kalle. »Du weißt nicht, was du sprichst.« Und dann erzählte er Anders, was »heutzutage passiert«.

Anders’ dunkle Augen verdunkelten sich noch mehr, als er hörte, was sein Befehl zur Platzverlegung des Großmummrich angerichtet hatte. Er wollte sofort zu Eva-Lotte rennen, um, wenn sie auch nicht direkt zu trösten, so ihr doch auf irgendeine Art zu zeigen, daß er selbst sich für einen Idioten hielt, weil er sie mit dem Auftrag losgeschickt hatte.

»Aber ich konnte doch wirklich nicht wissen, daß dort draußen Tote herumliegen«, sagte er ganz niedergeschlagen zu Kalle.

Kalle saß ihm gegenüber und hämmerte nachdenklich ganze Reihen von Schuhmachernägeln in den Schuhmachertisch.

»Nein, klar, wie solltest du das wissen können«, sagte er dabei. »Es kommt ja nicht oft vor.«

»Was kommt nicht oft vor?«

»Daß Tote rumliegen draußen beim Herrenhof.«

»Klar, meinte ich doch«, sagte Anders, »Übrigens schafft Eva-Lotte das ganz bestimmt. Jedes andere Mädchen würde dabei durchdrehen, aber nicht sie. Du wirst sehen, sie wird der Polizei einen ganzen Berg Fingerzeige geben.«

Kalle nickte. »Vielleicht hat sie jemand gesehen, der … der … es getan haben kann.«

Anders schauderte. Aber er war nicht annähernd so benommen wie Kalle. Er war ein froher, zukunftsträchtiger und sehr aktiver Junge, und außergewöhnliche Ereignisse weckten seinen Tätigkeitsdrang, auch wenn sie erschreckend waren. Er wollte etwas tun, und das sofort. Loslegen mit den Nachforschungen und den Mörder festsetzen, und zwar möglichst im Verlauf der nächsten Stunde. Er war kein Träumer wie Kalle. Es wäre unrecht zu behaupten, daß Kalle nicht auch, trotz seiner Träume-reien, besonders wirksam sein konnte – es gab ja welche, die das bereits erfahren hatten-, aber Kalles Wirksamkeit begann stets mit langatmigen Meditationen. Kalle saß dann da und dachte sich Dinge aus – recht einfallsreiche Dinge mitunter, das mußte man bestätigen –, aber oftmals waren es doch nur Phantasien ins Blaue hinein.