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Anders phantasierte nicht. Er verschwendete keine Zeit mit Meditationen. Sein Körper war so erfüllt von Energie, daß es eine wahre Plage für ihn war, eine Weile stillsitzen zu müssen. Es war kein Zufall, daß er der Chef der Weißen Rose war. Er war selbst-sicher, fröhlich und redegewandt, erfindungsreich und immer bereit, an der Spitze zu gehen. Das war Anders. Ein wehleidigerer Typ als er hätte an den häuslichen Verhältnissen Schaden genommen – der Vater war ein unerträglicher Tyrann –, Anders aber nicht. Er hielt sich nur, soviel er irgend konnte, fern von zu Hause, und die Zusammenstöße mit seinem Vater nahm er gleichmütig hin. Alle Schelte glitt an ihm ab wie das Wasser an einer Gans, und fünf Minuten nach der stärksten Abreibung war Anders schon draußen und sprang fröhlich umher wie immer.

Ganz unmöglich also, daß er jetzt mit den Händen im Schoß da-sitzen sollte, wenn wichtige Sachen sein Eingreifen erforderten.

»Komm, Kalle«, sagte er deshalb. »Ich schließe die Werkstatt. Vater kann sagen, was er will.«

»Traust du dich wirklich?« fragte Kalle, der den Schuhmachermeister kannte.

»Pfff«, machte Anders.

Natürlich getraute er sich. Er mußte nur eventuellen Kunden auf irgendeine Art klarmachen, warum das Geschäft an einem Werktag geschlossen war. Er nahm einen Blaustift und schrieb auf ein Stück Papier:

GESCHLOSSEN WEGEN MORD

Dann heftete er das Papier mit einer Reißzwecke außen an die Ladentür und wollte abschließen.

»Aber Anders, du bist wohl nicht ganz normal«, sagte Kalle, als er auf das Papier sah. »Das kannst du doch nicht schreiben!«

»Kann ich nicht?« fragte Anders zögernd. Er legte den Kopf auf die Seite und dachte nach. Möglicherweise hatte Kalle recht.

Man konnte den Zettel vielleicht mißverstehen. Er riß ihn ab, lief in die Werkstatt zurück und schrieb einen neuen. Den heftete er dann an die Tür und ging rasch davon. Kalle folgte seinem Chef.

Frau Magnussen kam bald darauf über die Straße, um ihre neubesohlten Schuhe abzuholen. Sie blieb stehen und las mit vor Verwunderung kugelrunden Augen:

AUS ANLASS DES PASSENDEN WETTERS  

BLEIBT DIESE WERKSTATT

HEUTE GESCHLOSSEN

Frau Magnussen schüttelte den Kopf. Richtig bei Troste war er ja nie gewesen, der Schuhmacher, aber jetzt war er bestimmt übergeschnappt. »Passenden Wetters« – hatte man so etwas schon gehört?

Anders eilte zur Prärie. Äußerst unwillig folgte ihm Kalle. Er hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu gehen. Anders aber wollte wissen, daß die Polizei schon unruhig auf Kalles Hilfe wartete. Sicher hatte Anders Kalle seiner Grillen wegen gehän-selt, aber das vergaß er, da ja jetzt ein akuter Kriminalfall tatsächlich eingetreten war. Jetzt entsann er sich nur des bemerkenswerten Einsatzes von Kalle im vorigen Jahr. Es war unbe-streitbar Kalles Verdienst gewesen, daß die drei Juwelendiebe verhaftet worden waren. Ja, Kalle war ein hervorragender Detektiv, und Anders erkannte diese Überlegenheit willig an. Und er war überzeugt, daß auch die Polizei so dachte.

»Du verstehst doch, die müssen sich ja freuen, wenn du dich ihnen zur Verfügung stellst«, sagte er. »Im Handumdrehen wirst du das Rätsel lösen. Und ich werde dein Gehilfe.«

Kalle war in der Zwickmühle. Er konnte Anders nicht eingestehen, daß er nur Phantasiemorde vollendet aufklären konnte und daß er es einfach entsetzlich fand, jetzt mit einem richtigen Mord in Berührung zu kommen. Er schleppte die Beine immer langsamer nach, so daß Anders unruhig und ungeduldig wurde.

»Beeile dich«, sagte er. »Jede Sekunde ist kostbar in solch einem Fall. Das müßtest du doch am besten wissen!«

»Ach, ich glaube, wir lassen die Polizei das allein machen«, sagte Kalle, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

»Das sagst du?« rief Anders ganz verstört. »Wo du genau weißt, wie die alle Sachen und Dinge verwechseln! Das hast du selbst oft genug gesagt. Sei nicht dumm und komm mit.«

Er nahm den widerstrebenden Meisterdetektiv an die Hand und zog ihn hinter sich her. Langsam kamen sie zu dem abge-sperrten Gebiet.

»Du«, sagte Anders, »weißt du, was los ist?«

»Nein, was denn?«

»Der Großmummrich ist umzingelt! Wenn die Roten ihn haben wollen, müssen sie erst die Polizei überwältigen.«

Kalle nickte nachdenklich. Viel hatte der Großmummrich schon erlebt, aber es war das erste Mal, daß er unter Polizei-schutz stand.

Schutzmann Björk patrouillierte bei der Absperrung, und Anders ging geradewegs auf ihn zu. Er zog Kalle mit sich und stellte ihn vor Björk hin, so wie ein Hund einen apportierten Gegenstand hinlegt und dann auf ein Lob wartet.

»Onkel Björk, hier ist Kalle«, sagte er erwartungsvoll.

»Das sehe ich«, sagte Björk. »Und was will Kalle?«

»Lassen Sie ihn durch, damit er losschnüffeln kann«, forderte Anders. »Den Tatort des Verbrechens untersuchen …«

Aber Björk schüttelte den Kopf. Er sah ungemein amtlich aus. »Macht euch nach Hause, Jungen«, sagte er. »Geht nach Hause. Dankt Gott, daß ihr noch so klein seid und von alledem nichts begreift.«

Kalle errötete. Er begriff sehr gut. Er begriff, daß hier kein Platz war für den Meisterdetektiv mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen und den großen Worten. Wenn er das doch nur auch Anders begreiflich machen könnte!

»Typisch«, sagte Anders verbittert, als sie nach der Stadt zurückwanderten. »Und wenn du, seit Kain den Abel erschlug, jeden einzigen Mord aufgeklärt hättest – die würden niemals zugeben, daß ein Privatdetektiv etwas taugt.«

Kalle schüttelte sich vor Unbehagen. So ungefähr hatte er selbst viele Male geredet. Er wünschte von ganzem Herzen, daß Anders das Gesprächsthema wechseln möge. Aber Anders fuhr fort: »Früher oder später fährt sich die Polizei sicher fest. Bitte, versprich mir, daß du den Fall dann nicht eher übernimmst, bevor sie dich auf den Knien darum bitten!«

Das versprach Kalle bereitwilligst. Wehmütig wanderten sie weiter der Stadt zu. Sixtus, Benka und Jonte waren auch auf dem Heimweg von der Prärie. Vor einer Stunde hatte die furchtbare Nachricht sie erreicht, und sie waren auch zur Prärie gestürzt –nur um enttäuscht festzustellen, daß es ebensogut war, wieder nach Hause zu gehen. Gerade als sie zu diesem Entschluß gekommen waren, trafen sie Anders und Kalle.

Heute tauschten die Weißen und die Roten keine Gehässig-keiten miteinander. Die gewaltigen Krieger waren alle ziemlich still und sahen um die Nasen recht blaß aus. Gemeinsam trabten sie zur Stadt zurück und dachten mehr an den Tod, als sie es bisher in ihrem Jungenleben getan hatten. Sie fühlten tiefes Mitleid mit Eva-Lotte.

»Leid tut sie mir, wahrhaftig«, sagte Sixtus. »Sie sagen, daß sie total mit den Nerven runter ist. Liegt bloß da und heult.«

Anders wurde davon beinahe mehr ergriffen als von der übrigen Scheußlichkeit. Er schluckte einige Male. Es war ja seine Schuld, wenn Eva-Lotte dalag und heulte.

»Man müßte sich wohl um sie kümmern«, sagte er schließlich, »’ne Blume hinschicken oder so was …«

Die andern vier starrten ihn an, als ob sie ihren Ohren nicht trauten. War die Situation wirklich so ernst? Dem Mädchen Blumen schicken – er mußte davon überzeugt sein, daß Eva-Lotte verloren war. Aber je länger sie darüber nachdachten, desto nobler schien ihnen der Vorschlag. Eva-Lotte sollte eine Blume haben. Sie war es, ehrlich gesagt, wert.