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Dort lagen seine Kleider auf einem Stuhl. Unruhig horchte er in das Zimmer zurück. Aber alles schlief weiter, und schnell fuhr er in Hose und Hemd. Dann tappte er leise und vorsichtig die Treppe hinunter. Und er brauchte nicht viel Zeit, bis er auf dem Bäckereiboden stand, um den Großmummrich zu holen.

»O erhabener Großmummrich«, flüsterte er, als er die Kommodenschublade wieder zuschob, »halte nun deine mächtige, starke Hand über mein Beginnen; denn weißt du, ich glaube, es ist nötig.«

Die Nachtluft war kühl, und er fröstelte unter seinen dünnen Kleidern. Ein wenig war wohl auch die Aufregung schuld. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, hier so in der Nacht unterwegs zu sein, während andere Menschen schliefen. Fest um-spannte seine Hand den Großmummrich, als er über Eva-Lottes Zaun sprang. Wie dunkel die Erlen am Ufer standen. Der Fluß aber glitzerte im Mondschein.

»Bald sind wir am Ziel, o Großmummrich«, flüsterte er für den Fall, daß der Großmummrich ungeduldig werden sollte. Ja, bald waren sie am Ziel. Da lag die Villa des Postdirektors so dunkel und still, als wenn auch sie schliefe. Alles war ruhig. Nur die Heimchen zirpten.

Anders hatte damit gerechnet, daß mindestens ein Fenster im Hause offenstehen würde, und seine Hoffnung erfüllte sich. Für einen durchtrainierten Jungen wie Anders dürfte es nicht schwer sein, in das Küchenfenster hineinzukommen. Den Großmummrich steckte er in die Hosentasche. Sicher war dieser Platz nicht eines Großmummrichs würdig; aber es mußte sein – Anders brauchte beide Hände frei.

»Verzeih mir, o Großmummrich«, bat er ihn leise.

Seine Finger fuhren in die Tasche, und er war sehr erstaunt, als sie sich um etwas Klebriges legten, das vorher ein Stück Schokolade gewesen war. Anders war nicht mehr so überfüttert wie am Morgen, und er fühlte schon, wie dieser klebrige Kloß ihm großartig schmecken würde. Aber es sollte eine Belohnung werden nach vollbrachter Tat. Er schob den Großmummrich in die andere Hosentasche und leckte vorerst nur die Finger ab.

Dann zog er sich behutsam zum Küchenfenster hoch und wollte hinein.

Ein dumpfes Knurren erschreckte ihn so furchtbar, daß er dachte: Jetzt werde ich wahnsinnig – Beppo! Nicht einen Augenblick lang hatte er an Beppo gedacht! Und doch hätte er sofort wissen müssen, daß dieses Fenster nur offengelassen war, um Beppo Gelegenheit zu geben, des Nachts aus dem Hause zu kommen – falls er mußte und wollte.

»Beppo«, flüsterte Anders beruhigend. »Beppo, ich bin es doch bloß.«

Als Beppo merkte, daß es nur einer von den Spaßmachern war, die Herrchen immer mitzubringen pflegte, ging sein Knurren in entzücktes Gebell über.

»Ach du gutes, kleines, süßes, liebes Beppochen, kannst du nicht leise sein?« bat Anders.

Aber Beppo fand, wenn man fröhlich war, sollte man es auch zeigen und tüchtig bellen und mit dem Schwanz wedeln. Und beides tat er ganz energisch.

In seiner Not fischte Anders das Schokoladenstück hervor und hielt es ihm unter die Nase.

»Hier, sei nur still, dann bekommst du es«, flüsterte er.

Beppo schnüffelte an der Schokolade. Und da er fand, daß die Begrüßungsfeierlichkeiten gerade so lange gedauert hatten, wie es die Würde und der Anstand des Hauses erforderten, hörte er auf zu bellen und legte sich zufrieden nieder, um den herrlichen Klebekloß zu genießen, den ihm sein Gast – sicher für den freundlichen und lautstarken Empfang – spendiert hatte.

Anders seufzte erleichtert auf und öffnete die Tür, die in den Vorraum führte, so behutsam wie irgend möglich. Da war die Treppe, auf der er nach oben wollte …

Da ging oben jemand! Jemand kam mit schweren Schritten die Treppe herunter. Der Postdirektor kam, in eigener Person, barfuß und im Nachthemd. Beppos Bellen hatte ihn geweckt, und nun wollte er sehen, was los war.

Einen Augenblick stand Anders wie versteinert. Dann aber sammelte er all seine seelische Kraft, und im selben Moment kroch er auch schon schnell hinter einige Mäntel, die in einer Ecke des Vorraums an ihren Haken hingen.

Wenn ich nach diesem Unternehmen nicht in einer Nerven-heilanstalt lande, habe ich Nerven wie Tarzan, dachte er. Erst jetzt fiel ihm ein, daß die Postdirektorfamilie möglicherweise gar nichts davon hielt, wenn man nachts durch ihre offenen Fenster ins Haus kletterte. Daß Sixtus so etwas nur natürlich finden würde, war klar; aber er war ja auch am Krieg der Rosen beteiligt. Anders schauderte bei dem Gedanken, was der Postdirektor wohl mit ihm machen würde, wenn er ihn fand. Er schloß die Augen und betete still vor sich hin, als der Postdirektor, böse murmelnd, ganz dicht an den Mänteln vorüberging, hinter denen er stand.

Der Postdirektor öffnete die Tür zur Küche. Da lag Beppo im Mondschein und sah ihn an.

»Na, mein Junge«, sagte der Postdirektor, »was schimpfst du denn hier in der Nacht herum?«

Beppo antwortete nicht. Vorsichtig legte er seine Pfote auf den herrlichen Klebekloß. Herrchens Vater hatte nämlich oft wunderliche Einfälle. Gestern erst hatte er Beppo einen fetten alten Knochen weggenommen, den Beppo gerade auf dem Her-renzimmerteppich verzehren wollte. Niemand konnte daher wissen, ob er die richtige Einstellung zu so einem Schokoladenkloß hatte. Um ganz sicherzugehen, gähnte Beppo und legte eine gleichgültige Miene auf sein Hundegesicht. Der Postdirektor beruhigte sich. Der Ordnung wegen sah er aber doch noch aus dem Fenster.

»Ist dort jemand?« rief er leise. Nur der Nachtwind antwortete ihm.

Das Gemurmel von Anders hinter den Mänteln konnte er nicht hören: »Nein, nein, hier ist niemand. Ich erkläre, hier findet sich nicht einmal eine Laus.«

Lange stand Anders in seinem Versteck. Er getraute sich nicht eher, eine Bewegung zu machen, als bis er sicher war, daß der Postdirektor wieder eingeschlafen war. Es war sehr langweilig für ihn. Bald hatte er das Gefühl, als habe er die beste Zeit seiner Jugend hier hinter den Mänteln zugebracht – und immer mit den kitzelnden Wollfusseln vor seiner Nase. Er war eine be-triebsame Natur, und untätig sein war eine Qual für ihn.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er kam aus seinem Gefängnis hervor und begann, vorsichtig die Treppe hinauf zuklimmen. Bei jedem Schritt blieb er stehen und lauschte, aber es war kein Laut zu hören. »Das geht ja großartig«, sagte er, opti-mistisch wie immer.

Die quietschende Tür in Sixtus’ Zimmer beunruhigte ihn ein wenig. Sachte drückte er die Türklinke herunter, um zu probieren. Die Tür öffnete sich lautlos – sie war tatsächlich geölt worden. Anders lachte in sich hinein. Nun hatte Sixtus die Tür zu seinem eigenen Schaden geölt. Was hatte man doch für nette Feinde! Man brauchte nur auf eine kleine Unbequemlichkeit hinzuweisen, und – schwupp – schon halfen sie einem, so daß man sich bestens bei ihnen einschleichen konnte.

»Vielen Dank, mein lieber Sixtus«, dachte Anders und warf einen Blick zu Sixtus’ Bett hinüber. Da schlief er nun, der arme Kerl, und ahnte nichts davon, daß heute nacht der Großmummrich in sein Haus einzog.

Der Globus stand mitten im fließenden Mondlicht auf der Kommode. Anders’ flinke Finger hatten ihn schnell auseinan-dergenommen. Welch ein großartiger Platz für einen Großmummrich! Eifrig nahm er das Heiligtum aus seiner Hosentasche und legte es an seinen Platz.

»Eine kurze Zeit nur, o Großmummrich!« sagte er, als er fertig war. »Eine Weile mußt du unter den Heiden, die das Gesetz nicht anerkennen, leben. Dann aber werden dir die Weißen Rosen wieder eine Freistatt bei christlichen und ehrlichen Menschen geben.«

Eine Schere lag neben dem Globus. Und als Anders sie sah, hatte er einen Genieblitz. Wenn ein Mann in der Nähe seines schlafenden Feindes war, so war es doch üblich, daß er einen Zipfel von dessen Mantel abschnitt zum Zeichen dafür, wie nahe er ihm gewesen war. So geschah es stets in alten Zeiten. Jedenfalls schrieben die Bücher davon. Das war eine hervorragende Art, dem Feinde zu zeigen, daß man ihn in der Gewalt gehabt, aber voller Edelmut Abstand davon genommen hatte, ihm etwas zu tun. Am nächsten Tag konnte man dann erscheinen und seinem Feind mit dem Mantelflicken vor der Nase herum-fuchteln und sagen: »Danke mir auf den Knien, daß du noch lebst, du elender Flegel.«