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Eine Zeitlang lag er ganz still und dachte. Und es waren be-

ängstigende Gedanken.

»Es gibt noch mehr Menschen als nur mich, die Zeitungen gelesen und Kriminalfälle verfolgt haben. Noch einer kann das getan haben. Einer in grünen Gabardinehosen. Einer, der Angst hat. Er kann den Artikel über Eva-Lotte auch gelesen haben. Da wurde ja von Schokolade und Bonbons geschrieben, die man ihr per Post schickt. Diesen Artikel, in dem auch gestanden hat, daß Eva-Lotte möglicherweise ein Werkzeug sei, dazu bestimmt, den Mörder festzusetzen oder so ähnlich. Du großer Nebukadnezar, wenn es so gewesen ist!«

Kalle sprang aus dem Bett. Die andere Hälfte der Schokoladentafel – die hatte er doch bekommen! Er hatte sie völlig vergessen gehabt. Wo war sie? Selbstverständlich war sie noch immer in der Hosentasche. Diese blauen Hosen, die er neulich angehabt hatte … Er hatte sie seitdem nicht mehr angezogen.

Welch ein Glück für ihn, welch sagenhaftes Glück – wenn es wirklich so war, wie er mutmaßte.

Man kann sich viel einbilden, wenn man im Halbschlaf dahindämmert. Das Unwahrscheinlichste wird dann glaubhaft. Als Kalle jetzt in seinem Pyjama in der Schrankkammer stand, wo die Morgensonne durch das Fenster lugte, fand er wieder, daß er einfach närrisch sei. Es war alles natürlich nur Einbildung –genau wie immer.

»Und trotzdem«, sagte er, »eine kleine Routineuntersuchung kann ich ja immerhin machen.«

Sein erdachter Zuhörer, der sich lange verborgen gehalten hatte, wartete sichtlich nur auf dieses Stichwort. Eifrig kam er angelaufen, um zu sehen, womit der große Meisterdetektiv sich beschäftigte.

»Was wollen Sie tun, Herr Blomquist?« fragte er andächtig.

»Wie ich schon sagte – eine kleine Routineuntersuchung.«

Plötzlich war Kalle wieder Meisterdetektiv, es war nicht zu ändern. Lange hatte er es nicht sein dürfen, auch keine Lust gehabt, es zu sein. Wenn tatsächlich Ernst mit im Spiel war, wollte er nicht Detektiv sein. Aber gerade jetzt zweifelte er selbst, einen berechtigten Verdacht zu haben, zweifelte so stark daran, daß er hilflos der Versuchung verfiel, wieder in der alten Weise zu markieren. Er nahm die halbe Tafel Schokolade aus der Hosentasche und hielt sie seinem erdachten Zuhörer hin.

»Aus bestimmten Gründen habe ich den Verdacht, daß sie mit Arsenik vergiftet ist.« Sein erdachter Zuhörer krümmte sich vor Schreck. »Sie wissen, so etwas ist schon passiert«, fuhr der Meisterdetektiv unbarmherzig fort. »Und es gibt etwas, das nennt man ›Verbrechen aus Nachahmung‹. Es ist ja eine ziemlich gewöhnliche Sache, daß ein Verbrecher seine Anregungen aus bereits geschehenen Verbrechen nimmt.«

»Aber wie kann man wissen, ob wirklich Arsenik darin ist?«

fragte der erdachte Zuhörer und sah hilflos und ratsuchend auf das Schokoladenstück.

»Man macht eine kleine Probe«, sagte der Meisterdetektiv ruhig. »Die Marshsche Arsenikprobe. Und die gedenke ich jetzt vorzunehmen.«

Sein erdachter Zuhörer sah sich mit bewundernden Blicken in der Schrankkammer um. »Ein erstklassiges Laboratorium haben Sie hier, Herr Blomquist«, sagte er. »Sie sind sicher ein ausgezeichneter Chemiker, wie ich mir denken kann?«

»Na ja … ausgezeichnet … ich habe mir in meinem langen Leben ein gut Teil chemischer Kenntnisse angeeignet«, bestätigte der Meisterdetektiv bescheiden. »Die Chemie und die Kriminalistik müssen Hand in Hand arbeiten. Verstehen Sie, junger Freund?«

Seine armen Eltern hätten, wenn sie jetzt dabeigewesen wären, bestätigen können, daß ein großer Teil in des Meisterdetektivs langem Leben tatsächlich chemischen Versuchen ge-widmet gewesen waren. Sie hätten es wahrscheinlich anders ausgedrückt. Wahrscheinlich fanden sie, daß man der Wahrheit näher kam, wenn man sagte, er habe unzählige Male versucht, sich selbst und den gesamten Haushalt in die Luft zu sprengen, um einen Forschereifer zu befriedigen, der nicht immer von ex-aktem Wissen begleitet war.

Aber der erdachte Zuhörer besaß nichts von diesem Unglauben, der Eltern auszeichnet. Interessiert sah er zu, wie der Meisterdetektiv von einem Regal eine Anzahl Geräte, einen Spiritusbrenner und verschiedene Glasröhren und Büchsen nahm.

»Wie wird die Probe gemacht, von der Sie vorhin sprachen, Herr Blomquist?«

»Zuerst benötigen wir dazu einen Wasserstoffapparat«, sagte Kalle in dozierendem Ton. »Einen Apparat dieser Art habe ich hier. Es ist ganz einfach eine Büchse. In diese Büchse, die Schwefelsäure enthält, lege ich einige Zinkstückchen. Dabei bildet sich Wasserstoff, verstehen Sie? Wenn wir dort hinein Arsen in irgendeiner Form geben, bildet sich ein Gas, das man Ar-senwasserstoff nennt. AsH . Das entstehende Gas leiten wir durch diese Glasröhre, lassen es weitergleiten und in einer Röhre mit wasserfreiem Kalziumchlorid trocknen. Dieser Vorgang wiederholt sich anschließend in der engeren Röhre. Unter Zu-hilfenahme des Spiritusbrenners erhitzen wir das Gas genau hier an der Verengung. Und dort, verstehen Sie, zerlegt sich das Gas in Feuchtigkeit und freies Arsenik, und das Arsen schlägt sich auf den Wänden der Glasröhre als ein grauschwarz schimmernder Belag nieder. Der sogenannte Arsenspiegel. Ich vermute, daß Sie davon bereits gehört haben, mein junger Freund?«

Sein junger Freund hatte von rein gar nichts gehört; aber er verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit die Manipulationen des Meisterdetektivs.

»Bitte, erinnern Sie sich«, sagte der Meisterdetektiv, als er zum Schluß den Spiritusbrenner anzündete, »daß ich nicht ge-sagte habe, das Schokoladenstück enthalte wirklich Arsenik. Ich stelle nur eine Routineuntersuchung an und hoffe inständig, daß mein Verdacht gänzlich aus der Luft gegriffen ist.«

Dann war es eine Weile ruhig in der sonnigen Schrankkammer. Der Meisterdetektiv war so beschäftigt, daß er ganz einfach seinen jungen Freund vergaß.

Jetzt war die Glasröhre erwärmt. Ein Teil der Schokolade wurde pulverisiert, und durch einen Trichter schüttete Kalle das Pulver in den Wasserstoffapparat. Dann wartete er und hielt den Atem an. – Großer Gott, tatsächlich! Da war er! Der Arsenspiegel! Der schreckliche Beweis dafür, wie recht er gehabt hatte. Er starrte auf die Glasröhre, als könne er seinen Augen nicht trauen. In seinem Innern hatte er die ganze Zeit über gezweifelt.

Jetzt aber war kein Zweifel mehr möglich. Das bedeutete etwas Furchtbares. Zitternd löschte er den Spiritusbrenner. Sein erdachter Zuhörer war fort. Er verschwand, sowie sich der ver-dienstvolle Meisterdetektiv in einen geängstigten Kalle verwandelte.

Anders wurde davon geweckt, daß jemand unter seinem Fenster das Signal der Weißen Rose pfiff. Er streckte ein verschlafenes Gesicht zwischen den Blumentöpfen hervor, um zu sehen, wer dort war. Kalle stand da draußen vor der Schuhmacherwerkstatt und winkte ihm zu.

»Wo brennt es?« fragte Anders. »Warum mußt du Menschen um diese Zeit wecken?«

»Quatsch nicht, sondern komm herunter«, sagte Kalle. Und als Anders endlich kam, sah er ihm scharf in die Augen und forschte: »Hast du von der Schokolade gekostet, bevor du sie Beppo gegeben hast?«

Anders starrte ihn betroffen an: »Um halb sieben Uhr morgens kommst du hier angetigert, nur um so was zu fragen?«

»Ja. Denn sie war vergiftet. Mit Arsenik.« Kalle sagte es ganz ruhig.

Anders’ Gesicht wurde schmal und blaß. »Ich besinne mich nicht«, murmelte er. »Doch, ich habe die Finger abgeleckt. Ich habe doch zuerst den Großmummrich in die Klebe in meiner Tasche gesteckt … Bist du ganz sicher?«

»Ja«, sagte Kalle hart. »Und jetzt gehen wir zur Polizei.«

Eilig erzählte er Anders von dem Versuch, den er gemacht hatte, und von der schrecklichen Gewißheit, die sich ihm enthüllt hatte. Sie dachten an Eva-Lotte und fühlten sich so scheußlich wie noch nie. Eva-Lotte durfte davon nichts wissen.