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Die erwarteten Entsetzensschreie der Weißen blieben allerdings aus, und zwar weil sie gar nicht bemerkten, daß die Kassette verschwunden war. Zum Schluß verlor Sixtus die Geduld, und er schickte Benka mit einem Handschreiben zu den Weißen, um sie zum Erwachen zu bringen.

Das Schreiben hatte folgenden Wortlaut:

»Wo ist wohl die Geheimkassette der Weißen Rosen?

Ja, wo sind sie wohl, die geheimen Dokumente?

Dort, wo die Prärie zu Ende geht, da steht ein Haus. In dem Haus ist ein Zimmer.

In dem Zimmer ist eine Ecke. In der Ecke liegt ein Papier.

Auf dem Papier ist eine Landkarte. Auf der Landkarte – – –

Ja, genau so!

O du Weiße Laus,

such nur in dem Haus!«

»Nie in meinem Leben gehe ich dorthin«, sagte Eva-Lotte zuerst. Bei näherem Überlegen aber sagte sie sich selbst, daß sie sich doch unmöglich ihr Leben lang von der Prärie, dem Spiel-platz aller Spielplätze, fernhalten konnte. Frühling oder Herbst, Sommer oder Winter, die Prärie behielt ihre Anziehungskraft, sie blieb voller Möglichkeiten. Durfte sie nicht mehr auf der Prärie spielen – ja, dann konnte sie ebensogut sofort in ein Klo-ster gehen.

»Ich gehe mit«, sagte sie nach einem kurzen inneren Streit mit sich selbst. »Besser sofort, als daß es zur fixen Idee bei mir wird.«

Und am Morgen danach standen die Weißen Rosen unnatürlich früh auf, um zu vermeiden, daß sie während ihres Suchens von den Feinden überrascht wurden. Der Sicherheit wegen erzählte Eva-Lotte zu Hause nicht, wohin sie ging. In aller Stille schlich sie aus dem Haus und vereinigte sich mit Anders und Kalle, die schon eine Weile am Zaun auf sie gewartet hatten.

Die Prärie war gar nicht so erschreckend, wie Eva-Lotte gedacht hatte. Und der Herrenhof sah beinahe einladend aus, gar nicht, als wäre er ein armes, unbewohntes Haus, sondern wie ein Heim, in dem die Menschen nur noch nicht aufgewacht waren.

Bald würden sie vielleicht die Fenster öffnen, die Gardinen würden sich im Morgenwind bauschen, die Zimmer von fröhli-chen Stimmen widerhallen, und aus der Küche würde ein freundliches Rumoren zu hören sein, welches Frühstück bedeutete. Hier gab es wirklich nichts, wovor man sich ängstigen konnte.

»O du Weiße Laus, such nur in dem Haus«, hatten die Roten sie aufgefordert, und sie taten ihr Bestes. Sie mußten lange suchen. Das Haus war sehr groß und hatte viele Zimmer und Ek-ken und Nischen. Aber schließlich wurde ihr Suchen von Erfolg gekrönt – genau wie die Roten es berechnet hatten. Jetzt sollten die Weißen aber gründlich angeführt werden!

Das Papier enthielt tatsächlich eine Landkarte, und es war nicht schwer, den Garten des Postdirektors darauf zu erkennen.

Da war das Wohnhaus und die Garage und der Holzschuppen und das geheime Örtchen und alles andere und dann an einer Stelle ein Kreis mit dem Hinweis »Grabt hier!«

»Man kann von den Roten sagen, was man will; aber besonders witzig ist das hier nicht«, fand Anders, als er die Karte gründlich angesehen hatte.

»Bestimmt, das hier wirkt direkt kindisch«, sagte Kalle. »Das ist so lächerlich einfach, man schämt sich richtig. Aber wir werden wohl hingehen müssen und graben glaub’ ich.«

Ja, sie wollten dorthin und graben. Aber zuerst wollten sie noch etwas anderes tun Weder Anders noch Kalle waren seit dem denkwürdigen Mittwoch hier draußen gewesen. Damals waren sie von Schutzmann Björk abgewiesen worden. Nun ergriff sie eine kleine häßliche Neugierde. Sollte man nicht auf jeden Fall mal hingehen und sich die Stelle ansehen, wenn man schon hier war?

»Ich nicht«, sagte Eva-Lotte nachdrücklich. Lieber wollte sie sterben als den kleinen Pfad zwischen den Haselnußsträuchern noch einmal gehen. Aber wenn Anders und Kalle durchaus wollten – sie hatte nichts dagegen. Nur abholen mußten sie sie nachher.

»Gut, wir sind in zehn Minuten zurück«, sagte Kalle.

Dann gingen die beiden.

Als Eva-Lotte allein war, begann sie das Haus einzurichten.

In ihrer Phantasie möblierte sie es und bevölkerte es mit einer großen, kinderreichen Familie. Eva-Lotte hatte selbst keine Geschwister, und kleine Kinder waren das Schönste, was sie sich denken konnte.

Hier ist das Eßzimmer, dachte sie. Hier ist der Tisch. Es sind so viele Kinder, daß sie sich drängen. Und Krister und Kristine prügeln sich und müssen zur Strafe ins Kinderzimmer. Bertil ist so klein, daß er in einem hohen Kinderstuhl sitzen muß. Die Mutter füttert ihn, aber oh, wie er sabbert! Da ist die große Schwester Liliane. Sie ist so schön, sie hat ganz schwarze Haare und schwarze Augen und will abends auf den Ball gehen. Sie soll hier unter dem Kristalleuchter stehen, in einem weißer Seiden-kleid, und mit den Augen funkeln. Eva-Lotte funkelte mit den Augen und war die große Schwester Liliane.

Der große Bruder Klaus kommt gerade heute aus Upsala zurück. Er hat sein Examen gemacht. Der Gutsherr ist sehr glücklich darüber. Er steht am Fenster und sieht hinaus und wartet auf seinen Sohn. Eva-Lotte streckte den Bauch vor und war der Gutsherr, der am Fenster stand und auf seinen Sohn wartete.

Sieh mal an, da kommt er ja schon! Wie gut er doch aussieht

– wenn er auch etwas jünger sein könnte.

Es dauerte einige Sekunden, bevor Eva-Lotte aus ihrer Phan-tasiewelt in die Wirklichkeit zurückkam und begriff, daß das dort nicht der große Bruder Klaus war, der mit langen, schnellen Schritten ankam, sondern ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut. Sie kicherte in sich hinein. Wie peinlich, wenn sie

»Hej, Klaus!« zu ihm hinuntergerufen hätte.

Jetzt sah er auf und sah sie am Fenster stehen. Er zuckte zusammen, der Bruder Klaus. Er mochte es wohl nicht, daß dort der Gutsherr stand und ihn ansah. Er hatte es plötzlich eilig. So eilig! Dann aber besann er sich und kam zurück. Ja, er kam zurück!

Eva-Lotte dachte nicht daran, ihn weiterhin nervös zu machen, indem sie ihn aus dem Fenster heraus ansah. Sie ging wieder in das Eßzimmer, um zu sehen, ob Bertil mit seinem Süpp-chen fertig war. Das war er nicht, und die große Schwester Liliane mußte ihm helfen. Sie war so damit beschäftigt, daß sie gar nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Und sie schrie leicht auf vor Schreck, als sie hochsah und bemerkte, daß der große Bruder Klaus ins Zimmer kam.

»Guten Tag«, sagte er – der große Bruder Klaus oder wer er nun sonst war.

»Guten Tag«, sagte Eva-Lotte.

»Ich dachte tatsächlich, es wäre eine alte Bekannte, die ich vorhin am Fenster stehen sah«, meinte der große Bruder Klaus.

»Nein, das war nur ich«, sagte Eva-Lotte.

Er sah sie prüfend an. »Aber haben wir uns nicht schon einmal getroffen, du und ich?« fragte er.

Eva-Lotte schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen«, hatte sie einmal gesagt. Aber da wußte sie nicht, daß das Aussehen eines Menschen vollkommen verändert werden kann, wenn ein Bart abrasiert und langes, in die Stirn hängendes Haar zu einer kurzen, aufrecht stehenden Bürste geschnitten wird. Der Mann, dem sie einmal auf dem schmalen Pfad begegnet war und dessen Bild ihrer Netzhaut unauslöschlich eingeprägt war, hatte damals außerdem dunkelgrüne Gabardinehosen getragen, und es war ihr unmöglich, sich vorzustellen, daß er irgendwie anders gekleidet sein konnte. Der große Klaus trug einen kleinkarierten grauen Anzug.

Er sah sie mit unruhigen Augen an, und dann fragte er: »Wie kann so ein kleines Fräulein wohl heißen?«

»Eva-Lotte Lisander«, sagte Eva-Lotte.

Der große Klaus nickte. »Eva-Lotte Lisander«, sagte er nachdenklich.