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Er hätte hören müssen, wie dort jemand schlich und sich vorbei-schlängelte und flüsterte. Er hätte sehen müssen, wie im Haus des Bäckermeisters Lisander vorsichtig ein Fenster geöffnet wurde und wie Eva-Lotte die Leiter hinunterkletterte. Er hätte an der Blomquistschen Ecke Kalle leise das Signal der Weißen Rosen pfeifen hören und den Schimmer von Anders sehen müssen, bevor er im schützenden Schatten der Fliederhecke verschwand.

Schutzmann Björk war nur leider sehr müde und wünschte sich, daß sein Rundgang endlich ein Ende nehmen möge. Deshalb begriff er nicht, daß dies die Nacht der Schrecken war.

Die armen, unwissenden Eltern der Weißen und Roten Rosen schliefen ruhig in ihren Betten. Keiner hatte sie nach ihrer Meinung über die nächtlichen Übungen ihrer Kinder gefragt.

Nur Eva-Lotte hatte für alle Fälle einen Zettel geschrieben und auf ihr Kopfkissen gelegt. Sollte bei ihr zu Hause jemand auf den Einfall kommen, zu bemerken, daß sie verschwunden war, bitte, dort standen die beruhigenden Zeilen:

»Hej, alle miteinander! Stellt Euch bloß jetzt nicht an. Ich bin draußen und kämpfe und komme bald zurück, glaube ich.

Eva-Lotte«

»Nur eine kleine Beruhigungspille«, erklärte sie Kalle und Anders, während sie den steilen Weg zur Schloßruine hinaufklet-terten.

Eben schlug die Rathausuhr zwölf. Die Zeit war da.

»Meiner Väter Burg …« sagte Kalle. »Was meint Sixtus damit? Soviel mir bekannt ist, hat hier noch nie ein Postdirektor gewohnt.« Vor ihnen lag im Mondlicht die Schloßruine und sah wirklich nicht besonders postalisch aus.

»Die gewöhnliche Angabe der Roten. Ist dir doch klar?« sagte Anders. »Sie müssen Prügel haben. Diese Angabe, weil sie nun schon mal den Großmummrich gefunden haben!«

In seinem Innern war Anders gar nicht so unzufrieden damit, daß die Roten schließlich das rechte Elsternnest gefunden und den Großmummrich zurückerobert hatten. Die Voraussetzung für den Krieg der Rosen war ja, daß das Kleinod dann und wann den Besitzer wechselte.

Ziemlich atemlos nach dem ermüdenden Aufstieg standen die drei ein kleines Weilchen vor dem Eingang zur Ruine herum. Sie standen da und horchten auf die Stille und fanden, daß es drinnen unter den tiefen Gewölben recht düster und gefährlich aussah.

Da hörten sie aus dem Dunkel eine Gespensterstimme, die rief: »Nun herrscht Kampf zwischen der Roten und der Weißen Rose, und tausend und aber tausend Seelen werden in den Tod gehen – hinein in die Nacht des Todes.«

Darauf folgte ein entsetzlich grausiges Lachen, dessen Echo zwischen den Steinwänden hin und her geworfen wurde. Und dann Stille, eine furchtbare Stille, als sei der, der vorher gelacht hatte, selber von Entsetzen über etwas Unbekannt-Grausiges in der Dunkelheit gepackt worden.

»Vorwärts zu Kampf und Sieg!« schrie Anders entschlossen und stürzte sich kopfüber in die Ruine. Kalle und Eva-Lotte folgten ihm.

Unzählige Male waren sie tagsüber hier gewesen. Aber nie zuvor in der Nacht. Sie erinnerten sich gut, daß sie sogar schon einmal im Keller der Schloßruine von Verbrechern eingeschlossen gewesen waren. Das war damals gewesen; und doch schien es ihnen jetzt, daß es nicht so schaurig gewesen war wie heute, wo sie sich mitten in der Nacht durch eine völlig ungewisse Dunkelheit zwängten und wo überall in den Schatten etwas Unheimliches verborgen sein konnte. Nicht nur die Roten! Nein, bestimmt nicht nur die! Gab es nicht auch Geister und Gespenster, die vielleicht ihre gestörte Nachtruhe dadurch rächten, daß sie aus irgendeinem Loch in der Wand, natürlich dort, wo man es am wenigsten vermutete, eine Knochenhand hervorstreckten, um einen zu erwürgen?

Noch einmal schrie Anders: »Vorwärts zu Kampf und Sieg!«

Er wollte wohl ihren Mut beleben, aber es klang in der Stille so entsetzlich, daß Eva-Lotte ihn zitternd bat, nicht noch einmal zu rufen. »Und laßt mich nicht allein, was ihr auch tun mögt«, setzte sie hinzu, »denn ich fühle mich unter Gespenstern nun einmal nicht besonders wohl.«

Kalle stieß sie beruhigend in den Rücken, und sie schlichen vorsichtig weiter. Nach jedem Schritt hielten sie an und horchten. Irgendwo in der Dunkelheit waren die Roten – denn es waren doch wohl hoffentlich ihre schleichenden Schritte, die man hörte. Ab und zu schien der Mond durch ein gewölbtes Fenster, und dann sah man alles fast so deutlich wie am Tage: die verwit-terten Wände und den ausgetretenen Boden. Wo aber das Mondlicht nicht hinkam, da waren nur beängstigende Schatten und erschreckendes Dunkel und taube Stille. Und aus dieser Stille konnte man, wenn man ganz genau hinhorchte, schwaches Geflüster auffangen, flatterndes kleines Geflüster, das einem ins Ohr floß und es mit Schrecken erfüllte.

Eva-Lotte hatte Angst. Ihre Schritte wurden langsamer. Wer flüsterte dort? Waren es die Roten, oder war es das Echo längst gestorbener Stimmen, das jetzt noch unruhig zwischen den Schloßmauern umhergeisterte? Sie streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, daß sie nicht allein war. Sie mußte Kalles Windjacke mit ihren Fingerspitzen fühlen können – als einen Schutz gegen die lauernde Angst. Aber da war keine Windjacke, und da war auch kein Kalle, nur ein schwarzer Hohlraum! Eva-Lotte stieß vor Entsetzen einen schrillen Schrei aus.

Da schoß aus einer tiefen Nische in der Wand ein Arm hervor und fing sie mit festem Griff. Eva-Lotte schrie. Sie schrie, weil sie wirklich glaubte, dies seien die letzten Minuten ihres Lebens.

»Halt den Schnabel!« sagte Jonte. »Das hört sich ja an, als ob ein Idiot schreit.«

»Liebster, bester alter Jonte!« Plötzlich hielt Eva-Lotte ihren Gegner für den herrlichsten aller Menschen. Innerlich wunderte sie sich verbittert, wo Anders und Kalle geblieben waren. Aber dann hörte sie, nicht allzu weit entfernt, die Stimme ihres Chefs:

»Was schreist du nur so ’rum, Eva-Lotte? Sag uns lieber, wo das Fest hier eigentlich stattfindet.«

Jonte war nicht besonders stark, und Eva-Lotte hatte sich mit ihren kleinen, harten Fäusten bald befreit. Sie eilte in dem langen, dunklen Gang, so schnell sie konnte, vorwärts, und Jonte blieb ihr eifrig auf den Fersen. Jetzt kam von der anderen Seite auch noch jemand, und Eva-Lotte schlug wild um sich, damit sie den Weg frei bekam. Aber dieser Gegner war stärker. Eva-Lotte spürte den Griff der Fäuste wie eine eiserne Zange um ihre Handgelenke – sicher war das Sixtus –, aber einen leichten Match wollte ihm Eva-Lotte bestimmt nicht gönnen, nein, bestimmt nicht! Sie spannte jeden Muskel ihres Körpers an und stieß zu einer Art gewaltigem Kinnhaken ihren Kopf unter das Kinn ihres Gegners.

»Ajajajaj!« stöhnte er, der Gegner. Und es war Kalles Stimme, die stöhnte.

»Was ist bloß los mit dir?« fragte Eva-Lotte. »Du bist so streitsüchtig.«

»Und warum prügelst du mich?« gab Kalle zurück. »Wenn man schon kommt, um dir zu helfen?«

Jonte grinste vor Behagen und bekam es mit der Eile, der gefährlichen Gesellschaft zu entkommen. Das war nichts für ihn: einsam mit zwei Weißen Rosen in einem dunklen Gang. Er rannte, so schnell er konnte, auf die helle Maueröffnung zu, um auf den Schloßhof zu kommen. Zum Abschied hetzte er:

»Wunderbar! Herrlich! Schlagt euch nur richtig zusammen!

Wir sparen dann viel Arbeit.«

»Ihm nach!« schrie Kalle, und sie rasten dem Ausgang zu.

Aber draußen im Schloßhof hatten sich nun die beiden Anführer getroffen und kämpften miteinander. Jeder mit seinem Holzschwert bewaffnet, fochten sie im Mondlicht gegenein-ander. Eva-Lotte und Kalle zitterten vor Spannung, als sie die schwarzen Schatten um den kreisförmigen Hof hasten sahen.