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Ja, das war in Wahrheit der Krieg der Rosen! Gerade zwischen solchen mittelalterlichen Mauern mußten sich die Käm-pen in nächtlichem Streite treffen. So war es doch gewesen, als der richtige Krieg zwischen den richtigen Roten und Weißen Rosen getobt hatte und tausend und aber tausend Seelen in den Tod gegangen waren – hinein in die Nacht des Todes! Wie ein häßlicher kalter Luftzug streifte sie eine Ahnung, wie es wohl sein würde, wenn der Krieg der Rosen nicht mehr nur ein lustiges Spiel wäre. Denn dieses Duell im Mondschein war für sie plötzlich kein Spiel. Ein Kampf auf Leben und Tod war es, und er konnte damit enden, daß einer der schwarzen Schatten, die jetzt noch an der Burgmauer hin und her jagten, schließlich re-gungslos liegenblieb und nicht mehr aufstand.

»Tausend und aber tausend Seelen …« flüsterte Kalle vor sich hin.

»Ach, sei bloß ruhig«, sagte Eva-Lotte.

Ihre Augen hingen an den kämpfenden Schatten, sie flog am ganzen Körper vor Aufregung. Dicht bei ihr standen Benka und Jonte, und sie verfolgten genauso aufgeregt und atemlos den bewegten Kampf. Die Schatten machten Ausfälle, parierten und gingen in den Nahkampf, zogen sich zurück, um sofort wieder zur Attacke überzugehen. Sie waren völlig stumm. Man hörte nur das dumpfe Klappen, wenn sich die Schwerter kreuzten.

»Wiege sie zur ew’gen Ruh mit der Schwerter Wiegenlied«, deklamierte Benka. »Und gib’s ihm, daß es nur so hagelt«, fügte er hinzu, um die seltsame Verzauberung, die die gleitenden Schatten auf ihn ausübten, zu brechen.

Da erwachte Eva-Lotte, und befreit atmete sie auf. Quatsch, das waren doch bloß Anders und Sixtus, die da ihre hölzernen Klingen kreuzten.

»Jag ihn hinaus aus seiner Väter Burg!« rief Kalle seinem Chef aufmunternd zu.

Der Chef tat, was er konnte. Aus seiner Väter Burg konnte er Sixtus zwar nicht vertreiben, aber mit der Kraft seines Schwertes trieb er ihn rückwärts gegen die Pumpe in der Mitte des Schloß-hofes. Neben der Pumpe war eine alte Fontäne in einem schmutzigen Wasserbecken. Und etwas Besseres konnte es gar nicht geben, als was jetzt geschah: daß der Rote Chef durch einen unvor-sichtigen Schritt rückwärts in das Becken fiel.

Mit ihren Jubelschreien übertönten Kalle und Eva-Lotte die zornigen Protestrufe der Roten. Aber Sixtus erhob sich aus seinem Bad, und jetzt war er richtig wild. Wie ein gereizter Stier stürzte er sich auf Anders, der der Abwechslung halber kehrt-machte und ausrückte. Vor Lachen glucksend, sauste er auf die Schloßhofmauer zu und begann sie zu erklettern. Bevor er es aber geschafft hatte, war Sixtus bei ihm und kletterte ihm nach.

»Wohin mit dir?« reizte Anders und sah auf seinen Verfolger hinunter. »Du willst wohl zu dem Fest auf deiner Väter Burg?«

»Zuerst will ich dich aber skalpieren«, versicherte Sixtus.

Auf leichten Füßen sprang Anders auf der Mauer entlang. Er dachte allerdings verwundert daran, was wohl geschehen sollte, wenn Sixtus ihn erreichen würde. Hier oben kämpfen war ausgesprochen lebensgefährlich: An einer Seite der Burgmauer gähnte ein Abgrund. Sixtus brauchte ihn nur zwanzig Meter weit nach Osten zu jagen, und schon gab es nicht mehr die weiche Grasmatte in Mannshöhe unterhalb der Mauer, sondern nur noch die erschreckende Tiefe von mindestens dreißig Metern.

Diese zu erwartenden dreißig Meter konnten ja eigentlich Anders nicht daran hindern, von der Mauer zu klettern, bevor er über der grausigen Tiefe war; aber er hatte einfach keinen Gedanken dafür übrig. Was gefährlich war, machte Spaß, und diese Nacht war für Schrecken bestimmt. Vielleicht hatte ihn auch eine besondere Art von Mondwahnsinn gepackt, denn er spürte eine wilde Lust, Handlungen von äußerster Verwegenheit zu begehen. Er wollte etwas anstellen, was die Roten so richtig nach Luft schnappen ließ.

»Komm, komm, komm, kleiner Sixtus«, lockte er. »Wie wär’s mit einer netten Mondscheinpromenade?«

»Halt du bloß die Luft an! Ich komme schon«, brummte Sixtus. Er begriff sehr gut, was Anders vorhatte. Aber er war nicht einer von denen, die man so im Handumdrehen dazu bringen konnte, nach Luft zu schnappen.

Der Pfad auf der Mauer war ungefähr vierzig Zentimeter breit, also eine richtige Promenade für den, der es gewohnt war, in der Turnstunde auf dem viel schmaleren Schwebebalken zu balancieren.

Jetzt hatte Anders die östliche Ecke erreicht. Er stand auf einer kleinen runden Plattform, einer Schutzwehr, und von hier ab schwenkte die Mauer nach Süden und folgte der jähen Tiefe.

Anders machte einige Probeschritte. In diesem Augenblick hörte er in seinem Innern die Stimme der Vernunft, und noch war es nicht zu spät, ihr zu folgen. Sollte er – oder sollte er nicht?

Lieber nicht!

Sixtus hatte sich beunruhigend genähert. Er grinste entzückt, als er Anders zaudern sah.

»Hier naht einer, der dein Herzblut sehen will«, sagte er zartfühlend. »Du hast doch nicht etwa Angst?«

»Angst?« schrie Anders und bedachte sich nicht länger. Mit ein paar schnellen Schritten war er wieder draußen auf der Mauer. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Mindestens fünfzig Meter mußte er an der grauenhaften Tiefe entlangbalancieren.

Er versuchte, nicht hinunterzusehen, sah nur den Mauerpfad entlang, der sich wie ein Silberband im Mondlicht ausstreckte.

Ein sehr langes Silberband – und sehr schmal. Plötzlich so be-

ängstigend schmal! Hatte er deshalb so ein weiches Gefühl in den Beinen?

Gern hätte er sich umgedreht, um zu sehen, wo Sixtus war.

Aber er getraute es sich nicht.

Jetzt war es auch nicht mehr nötig, denn jetzt hörte er Sixtus’

Atemzüge dicht hinter sich. Sehr nervöse Atemzüge, stellte er fest. Sixtus war bestimmt ängstlich, er auch! Anders selbst schwebte jetzt in völliger Todesangst. Es war nutzlos, etwas anderes zu behaupten. Und hinten waren die anderen Rosen auf die Schutzwehr geklettert. Dort standen sie und starrten voller Entsetzen auf die Wahnsinnstat ihrer Anführer.

»Hier naht – ei – ner, der dei – n Herzblut – se – hen will«, murmelte Sixtus. Aber seine blutdürstigen Reden hörten sich nicht mehr sehr überzeugend an.

Anders überlegte. Natürlich konnte man noch in den Burghof springen. Das würde aber auf jeden Fall ein Sprung von drei Metern, hinunter auf unebene Steine. Man konnte sich nicht langsam und vorsichtig hinuntergleiten lassen, denn dazu wäre immer vorher auf der Mauer eine Kniebeuge nötig gewesen.

Und Anders verspürte wirklich keine Lust, in der Nähe einer gähnenden Tiefe Kniebeugen zu machen. Nein, es gab nur eine Möglichkeit: weiterzulaufen und die Augen eisern auf die rettende Schutzwehr am anderen Ende der Mauer zu richten.

Möglich, daß Sixtus doch gar nicht so ängstlich war. Er hatte noch etwas von seinem grausigen Humor übrig. Anders hörte dicht hinter sich seine Stimme.

»Ich komme näher«, sagte er. »Immer näher komme ich, und bald werde – ich – dir – ein – Bein stellen«.

Das war natürlich nicht ernst gemeint. Aber für Anders wurde es verhängnisvoll. Allein die Vorstellung, daß ihm jetzt jemand von hinten ein Bein stellen könnte, jagte ihm einen wahnsinnigen Schrecken ein. Er drehte sich halb zu Sixtus um –und wackelte.

»Paß auf!« schrie Sixtus unruhig.

Da wackelte Anders noch einmal – und von der Schutzwehr erklang in derselben Sekunde ein gellender Schrei. Zu ihrem Entsetzen sahen die Rosen den Weißen Chef in die Tiefe stürzen.

Eva-Lotte hatte die Augen geschlossen. Verzweifelte Gedanken rasten durch ihren Kopf. Wo, oh, wo gab es einen Menschen, der ihnen jetzt helfen konnte? – Wer würde zu Frau Bengtsson gehen und ihr erzählen, daß Anders tot war? – Was sollten sie zu Hause sagen?

Da hörte sie Kalles Stimme, schrill und grell vor Aufregung:

»Seht, er hängt im Busch!«