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Eva-Lotte öffnete die Augen und starrte ängstlich in die Tiefe. Tatsächlich, dort hing Anders! Ein Busch hatte in der Berg-wand ein Stück unterhalb der Mauer Wurzeln geschlagen und hatte vorsorglich den Weißen Chef aufgefangen, als er so plötzlich in einen sicheren Tod fallen wollte.

Von Sixtus sah Eva-Lotte zuerst nichts. Der Schreck hatte auch ihn zu Fall gebracht. Aber mit viel Geistesgegenwart hatte er sich in den Burghof fallen lassen, wo er sich zwar Knie und Hände blutig geschlagen hatte, aber am Leben geblieben war.

Ob Anders am Leben bleiben würde, war mehr als zu bezweifeln. Der Busch bog sich beängstigend unter seiner Last. Eva-Lotte stöhnte.

»Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun?« wimmerte sie und starrte Kalle mit verzweifelten Augen an.

Wie gewöhnlich mußte Meisterdetektiv Blomquist die Leitung übernehmen, wenn Gefahr drohte.

»Festhalten, Anders!« schrie er. »Ich hole ein Seil!«

In der vorigen Woche hatten sie hier oben bei der Schloßruine Lassowerfen geübt. Irgendwo mußte das Seil noch herumliegen. Es mußte.

»Beeil dich, Kalle!« rief Jonte, als Kalle aus der Burgpforte lief.

»Beeil dich, beeil dich, beeil dich!« Alle schrien sie diese eigentlich überflüssige Ermahnung. Kalle konnte sich nicht mehr beeilen, als er tat.

Unterdessen versuchte man, Anders den Mut zu stärken.

»Sei nur ruhig«, tröstete Eva-Lotte ihn. »Bald kommt ja Kalle mit einem Seil.«

Anders benötigte viel Trost. Seine Situation war wirklich gefährlich, wie er auf dem Busch ritt wie die Hexe auf ihrem Be-sen. Er getraute sich nicht, in die Tiefe zu sehen. Er getraute sich nicht, zu schreien. Er getraute sich nicht, sich zu bewegen.

Er getraute sich überhaupt nichts. Er konnte nur warten.

Er starrte an der Mauer hoch. Wenn Kalle das Seil nicht finden würde, konnten ihm diese kleinen Mauervorsprünge auch nicht viel helfen. Er starrte auf den Busch, der sich bog und knackte.

»Warum kommt er denn bloß nicht?« schluchzte Eva-Lotte.

»Warum beeilt er sich denn nicht?«

Sie hätten nur sehen sollen, wie sehr sich Kalle beeilte. Wie eine Wespe schwirrte er umher und suchte überall. Suchte, suchte, suchte … Aber es fand sich kein Seil.

»Hilfe!« murmelte Kalle ängstlich.

»Hilfe!« murmelte Anders mit bleichen Lippen und saß dort auf seinem Busch.

»Ojojojoj«, murmelte Sixtus oben auf der Schutzwehr, »ojo-jojoj!«

Aber da kam – endlich! – Kalle, und das Seil hatte er auch.

»Eva-Lotte, du bleibst dort oben und hältst Ausschau!« kommandierte er. »Ihr anderen kommt herunter!«

Jetzt muß alles schnell gehen. Kalle weiß, was er zu tun hat.

Einen Stein aussuchen und an einem Ende des Seiles festbinden.

Ihn dann über die Mauer schleudern, möglichst ohne Anders’

Schädel zu treffen. Hoffen, bitten, wünschen, daß Anders das Seil packen kann, ehe es zu spät ist. Hände und Finger werden so fahrig, wenn es eilig ist. So entsetzlich eilig …

Da unten klebt Anders an der Mauer und starrt mit brennenden Augen hoch. Wird die Rettung nicht endlich kommen?

Ja, sie kommt. Da fliegt das Seil über die Mauer. Viel zu weit weg. Unerreichbar für seine sehnsüchtigen Hände.

»Mehr nach rechts!« schreit Eva-Lotte von ihrem Aussichts-posten.

Kalle und die anderen unten an der Mauer reißen und zerren am Strick und versuchen, ihn dichter an Anders heranzube-kommen. Es ist unmöglich. Das Seil muß sich an irgendeiner Unebenheit auf dem Mauersims verfangen haben.

»Ich halte es nicht mehr aus«, flüsterte Eva-Lotte. »Ich halte es nicht mehr aus.«

Sie sieht, wie die Jungen vergeblich an dem Seil zerren. Sie sieht Anders in seiner Angst – – o Anders, weißeste Weiße Rose, Edelmann unserer Weißen Rose!

»Ich halte es keine Sekunde mehr aus!«

Mit schnellen, leichten nackten Füßen läuft sie auf die Mauer hinaus. Mut Eva-Lotte! Nicht nach unten sehen! Nur vorwärts laufen bis zu dem Seil und sich bücken ja, ja, sich bücken, wenn die Beine auch noch so sehr zittern! Das Seil lösen, es auf Anders zuschieben, sich auf der schmalen Mauer umdrehen und zur Schutzwehr zurücklaufen.

Das tut sie – und heult nachher los wie ein Schloßhund.

Die Jungen haben sie mit keinem Wort gestört. Jetzt läßt Kalle das Seil sachte abwärtsgleiten. Der Stein schaukelt vor Anders. Vorsichtig, ganz, ganz vorsichtig streckt er seine Finger danach aus, und Eva-Lotte verbirgt ihr Gesicht in den Händen.

Aber sie soll ja Ausschau halten. Sie muß sich zum Sehen zwingen. Und da – da hat Anders das Seil in den Händen.

»Er hat es!« schreit Eva-Lotte gellend. »Er hat es!«

Nachher stehen sie um Anders herum und haben ihn alle so gern und sind so froh, daß er gerettet ist. Er ist famos, dieser Anders! Auf jeden Fall ist es herrlich, daß er lebt!

»Was hattest du eigentlich unten im Busch zu tun?« fragt Sixtus. »Hast du Vogeleier gesucht?«

»Ja, ich dachte, daß du vielleicht einige Verlorene Eier zu dem Fest auf deiner Väter Burg brauchen könntest«, entgegnete Anders.

»Und da bist du beinahe selbst ein Verlorenes Ei geworden«, sagt Kalle. Und darüber lachen sie sehr: Haha, da wäre doch Anders beinahe ein Verlorenes Ei geworden! Sixtus schlägt sich beim Lachen auf die Knie. Da fühlte er, daß seine verwundeten Kniescheiben weh tun. Außerdem friert er in seinen nassen Kleidern.

»Kommt, Benka und Jonte, jetzt hauen wir ab!«

»Ja«, sagt Eva-Lotte. »Jetzt muß der Chef der Roten endlich trockengelegt werden. Hoffentlich bekommt ihm das Bad, das er auf seiner Väter Burg genommen hat!«

»Schlaft gut!« ruft Benka im Davonlaufen. »Und wenn wir wieder mal Verlorene Eier brauchen, wenden wir uns an euch.«

Sixtus legt ein schönes Tempo vor, und seine Getreuen folgen ihm zur Burghoftür. Im Tor dreht er sich um und winkt Kalle und Anders und Eva-Lotte zu.

»Hallo, ihr alle, ihr Würmchen der Weißen Rose«, ruft er zurück. »Morgen werden wir euch von der Erdoberfläche ver-tilgen!«

Hier irrt der Rote Chef. Es wird eine Zeit dauern, bis die Rosen sich wieder treffen werden.

DRITTES KAPITEL

Glücklich und zufrieden wanderten die drei Weißen Rosen heimwärts. Die Nacht hatte ihnen allerlei beschert, aber Anders’

Abenteuer hatte ihr Gleichgewicht nicht durcheinanderge-bracht. Solange Anders auf dem Busch gesessen hatte, waren sie vor Angst außer sich gewesen. Aber wozu mußte man hinterher noch Angst haben? Es war doch alles gutgegangen, und Anders hatte wahrhaftig keinen Nervenschock davongetragen. Er nahm sich gar nicht erst vor, wegen dieses kleinen Erlebnisses Alp-träume zu haben. Er gedachte, nach Hause zu gehen, ruhig zu schlafen und voller Vertrauen am nächsten gefährlichen Tag aufzuwachen. Aber in den Sternen stand geschrieben, daß keine der Weißen Rosen in dieser Nacht Schlaf finden sollte.

Im Gänsemarsch liefen sie den kleinen, schmalen Pfad zur Stadt zurück. Besonders müde waren sie nicht, aber Kalle gähnte doch sehr lange und laut und sagte, das Schlafen in der Nacht sei bei vielen Leuten tatsächlich richtig populär geworden, und man könnte es ja schließlich auch einmal versuchen, um zu sehen, was »da eigentlich dran« sei.

»Dem Rasmus gefällt es bestimmt«, flüsterte Eva-Lotte zärtlich und blieb stehen. Sie waren im Wald neben Eklunds Villa angelangt, kurz bevor der Pfad auf den Fahrweg mündete, und konnten das Haus durch die Bäume sehen. »Oh, wie wird Rasmus süß aussehen, wenn er schläft«, fuhr Eva-Lotte fort.

»Nein, nein, nein, Eva-Lotte«, sagte Anders beschwörend,

»fang doch bitte nicht wieder damit an!«

Sicher schliefen Rasmus und sein Vater um diese Zeit in ihrem einsamen Haus. Im oberen Stockwerk stand ein Fenster offen, und eine weiße Gardine wehte leicht, als wollte sie den drei Nachtwanderern unten auf dem Pfad nur schnell einmal zuwin-ken. So still, so leise war es, daß Anders unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte, um die Menschen, die dort oben hinter der leicht wehenden Gardine schliefen, nicht zu wecken.