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Aber es gab jemand, der weniger rücksichtsvoll war, wenn es anderer Menschen Schlaf galt. Jemand, der Auto fuhr. An- und abschwellendes Brummen fraß sich in die Stille, man konnte den Gangwechsel hören. Dann wurde nervenaufpeitschend ge-bremst – und dann war alles wieder wie zuvor: nur Stille.

»Wer, zum Teufel, kutschiert um diese Zeit mit dem Auto hier herum?« wunderte sich Kalle.

»Was geht’s dich an?« sagte Anders kurz. »Komm jetzt.

Worauf warten wir eigentlich?«

Aber tief, tief unten in Kalles Seele reckte Meisterdetektiv Blomquist hellwach seinen Kopf in die Höhe. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in welcher Kalle ausschließlich »Herr Karl Blomquist, Meisterdetektiv« gewesen war: der scharfsinnige, unbestechliche Meisterdetektiv, der über die Sicherheit der Stadt wachte und seine Mitmenschen hauptsächlich in zwei Ka-tegorien, »die Verhafteten« und »die noch nicht Verhafteten«, einteilte. Aber inzwischen war auch Kalles Verstand gewachsen, und jetzt kam es nur bei ganz bestimmten Begebenheiten vor, daß er sich wie ein Meisterdetektiv fühlte. Und hier war eine solche Begebenheit. Tatsächlich: Hier war eine solche Begebenheit!

Wo will er hin, der im Auto kommt? Hier oben gibt es nur ein Haus, Eklunds Villa. Wie ein vorgeschobener Posten liegt sie ein weites Stück über allen übrigen Häusern der Stadt. Es kann nicht sein, daß der Professor jetzt Besuch erwartet: Das Haus schläft doch. Kann in dem Auto ein verliebtes Paar sitzen?

Ein Paar, das hier heraufgefahren ist, um den Mond anzu-schwärmen? Lokalkenntnis fehlt ihnen dann aber. Der richtige Schwärmplatz der Stadt liegt genau in entgegengesetzter Richtung. Und man muß schon vor lauter Liebe geistig ziemlich umnachtet sein, wenn man sich diesen steilen, schmalen und krummen Weg zu einer Autoschwärmerei ausgesucht hat. Aber wer ist es dann, der mit dem Auto hier heraufkommt? Kein echter Detektiv kann diese Frage ungelöst liegenlassen. Das geht einfach nicht.

Sie waren an den Fahrweg gekommen.

»He, hört mal, können wir nicht noch ein Weilchen warten, um zu sehen, wer kommt?« fragte Kalle.

»Warum bloß?« fragte Eva-Lotte. »Glaubst du im Ernst, hier laufen Mondmörder herum?«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als vor dem Zaun der Villa, ungefähr fünfundzwanzig Meter von ihnen entfernt, zwei Männer auftauchten. Man konnte die Gartentür schwach in ihren Angeln quietschen hören, als die beiden vorsichtig die Tür öffneten und hineingingen. Ja, sie gingen tatsächlich hinein!

»Runter mit euch in den Graben!« flüsterte Kalle erregt, und Sekunden später lugten die Köpfe der drei Rosen gerade noch so weit über den Grabenrand, daß ihre Augen verfolgen konnten, was im Garten des Professors geschah.

»Ach, so ein Quatsch – wenn die nun vom Professor eingela-den sind«, zischelte Anders.

»Denkst du«, sagte Kalle leise.

Wenn es tatsächlich Gäste des Professors waren, benahmen sie sich wahrhaftig eigentümlich. Wenn man ein gern gesehener Gast ist, schleicht man doch nicht, als sei man ängstlich, ertappt zu werden. Man umkreist nicht das Haus. Man geht nicht hin und her und betastet Türen und Fenster. Ein lieber Gast, der das Haus verschlossen findet, stellt doch wohl keine Leiter gegen ein offenes Fenster im oberen Stockwerk und klettert dort hinein! Aber gerade all diese Dinge taten die nächtlichen Besucher.

»Ich gehe ein«, keuchte Eva-Lotte. »Die klettern tatsächlich durchs Fenster!«

Und das taten die Männer zweifellos, soweit man seinen eigenen Augen trauen konnte. Die drei lagen im Graben und starrten erschrocken auf das offene Fenster mit seiner spielerisch gebauschten Gardine. Es dauerte eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit an Warten. Eine Ewigkeit an Stille ohne andere Laute als ihre unruhigen Atemzüge und das schwache Rascheln des Nachtwindes in den Kirschbäumen.

Endlich kam einer der beiden wieder auf die Leiter. Er trug etwas im Arm. Um aller Barmherzigkeit willen – was trug er da?

»Rasmus«,flüsterte Eva-Lotte und wurde schneeweiß im Gesicht. »Seht, sie rauben Rasmus!«

Aber nein, dachte Kalle, das war ja unmöglich. So etwas konnte hier doch gar nicht passieren. Hier nicht! In Amerika vielleicht – davon hatte man ja schließlich schon einiges in den Zeitungen gelesen –, aber hier: nein! Aber anscheinend konnte es auch hier geschehen. Der Mann dort – trug Rasmus. Wahrhaftig, das war Rasmus. Er hielt ihn sorgfältig im Arm, und Rasmus schlief.

Als der Mann mit seiner kleinen Last den Fahrweg hinunter verschwunden war, begann Eva-Lotte leise zu wimmern. Sie wandte Kalle ihr leichenblasses Gesicht zu und beschwor ihn, genau wie vorhin, als Anders auf dem Busch gesessen hatte.

»Was machen wir? Was in aller Welt sollen wir tun, Kalle?«

Kalle war zu aufgewühlt, um eine vernünftige Antwort zu geben. Er fuhr sich mit den Fingern nervös durch das Haar und stammelte: »Ich weiß nicht. Wir … wir … müssen Schutzmann Björk holen … wir müssen …«

Wild kämpfte er gegen die furchtbare Lähmung in seinem Innern an. Er mußte doch klar denken! Irgend etwas mußte sofort geschehen, aber jetzt war er nicht der Mensch, zu bestimmen, was. Niemals würden sie es schaffen, die Polizei zu holen.

So viel konnte er noch begreifen. Die Banditen würden Zeit haben, noch ein Dutzend Kinder zu rauben, bevor die Polizei hier war.

Da kam der Mann zurück. Rasmus hatte er nicht mehr auf dem Arm.

»Natürlich in das Auto gelegt«, flüsterte Anders.

Eva-Lotte antwortete darauf mit einem erstickten Stöhnen.

Sie sahen dem Kindesräuber mit vor Schreck ganz runden Augen nach. Nein, daß es derartig verabscheuenswerte Menschen gab – solche satanischen Schurken …

Jetzt öffnete sich die Verandatür, und der andere wurde sichtbar. »Schnell, Nicke«, rief er mit tiefer Stimme. »Wir haben es bald geschafft!«

Der Mann, der Nicke hieß, war mit ein paar schnellen Schritten oben auf der Veranda, und dann verschwanden beide wieder in der Villa.

Jetzt kam Leben in Kalle. »Kommt«, flüsterte er hastig.

»Kommt, wir müssen Rasmus zurückrauben.«

»Wenn wir es schaffen«, sagte Anders.

»Wenn wir es schaffen, jaja, natürlich – wenn wir es schaffen«, erwiderte Kalle. »Los! Wo steht das Auto?«

Es stand gleich unterhalb einer steilen Stelle des Fahrweges und hatte dort gewendet. Sie rannten hin. Schnell und leise liefen sie in der Grabenvertiefung, und sie fühlten bei dem Gedanken, daß sie nun Rasmus den Klauen der Banditen entreißen würden, einen wilden Triumph. Einen wilden Triumph und eine gleich wilde Angst.

In diesem Augenblick entdeckten sie, daß das Auto bewacht wurde. An der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Mann. Er wandte ihnen glücklicherweise den Rücken zu und war in höchst privater Weise beschäftigt. Sie wären ihm sonst sicher nicht entgangen. Nun konnten sie sich blitzschnell hinter einige schützende Büsche werfen. Etwas Beunruhigendes hatte der Mann sicher gehört, denn er drehte sich um und kam auf ihre Straßenseite herüber. Mißtrauisch starrte er genau in die Büsche hinein, hinter denen sie lagen. Hörte er wirklich ihre hämmernden Herzen und ihren keuchenden Atem nicht?

Es kam ihnen wie ein Wunder vor, daß er es nicht tat. Er stand ein Weilchen und horchte, machte einen kleinen Gang zum Auto und sah durch ein Seitenfenster hinein. Schlenderte etwas aufgeregt auf der Straße hin und zurück. Blieb mal stehen und starrte wie gebannt zur Villa hinüber. Fand er, daß seine Kumpane zu lange blieben?