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Sie starrten auf die Straße vor sich. Hier und dort lag ein rotes Zettelchen wie ein kleiner freundlicher Gruß von Eva-Lotte.

An der Abzweigung des Waldweges wäre es beinahe schiefge-gangen. Sie erreichten ihn und fuhren an ihm vorbei. Er war ja auch so unbedeutend, daß man ihn leicht übersehen konnte.

Aber Anders entdeckte einen wohlbekannten roten Zettel, der durch die Kiefern winkte.

»Stopp, stopp«, schrie er, »wir fahren falsch! Unsere Gangster sind in den Wald hinein!«

Einen freundlicheren Waldweg konnte es wirklich nicht geben. Zwischen den Bäumen huschten die Strahlen der Morgensonne hindurch. Sie schienen auf das dunkelgrüne Moos des Bodens und auf die kleinen Blumen dazwischen. In der Nähe, auf einer Tannenspitze, trillerte ein Vogel seinen Morgengruß so entzückt in die Welt hinein, als gäbe es keine Bosheit.

Als aber Kalle und Anders zwischen die Kiefern hineinsteuer-ten, spürten sie deutlich, daß der Vogel unrecht hatte. Sie spürten in jeder Fiber ihres Körpers, daß sie sich schnell etwas Bösem und Drohendem näherten. Dieses Böse und Drohende hatte mit Sonne, Blumen und Vogelsang nichts zu tun.

Es ging abwärts. Abwärts. Abwärts. Da schimmerte etwas Blaues zwischen den Bäumen hindurch: das Meer! Dann kam ihnen eine alte verfallene Landungsbrücke entgegen, und – ihre Fahrt war zu Ende. Am äußersten Ende der Brücke fanden sie den letzten Gruß von Eva-Lotte, ihre rote Haarspange.

Sie standen da und sahen nachdenklich über den Fjord hinaus. Die dünnen Morgennebel hoben sich, und die Sonne spielte auf der Wasserfläche, die der Morgenwind sacht kräuselte.

Wie still hier alles war! Wie tot. So leer wie am ersten Schöp-fungstag, bevor sich Menschen auf der Welt einfanden.

Grüne Inseln und kahle Klippen beengten den Blick zum Horizont. Man hätte glauben können, diese kleine, schmale blaue Meeresbucht sei ein Binnensee. Einige hundert Meter vor der Brücke lag eine große Insel und verdeckte die Ausfahrtrinne zum offenen Meer. Eine große, bergige Insel mit Wäldern. Sie schien vollkommen unbewohnt. Nein, unbewohnt war sie nicht.

Ein dünner, leichter Rauch stieg über die Baumspitzen in den Himmel hinauf.

»Da hast du das Wespennest!« sagte Kalle.

»Ersticken sollen sie!« antwortete Anders.

»Was glaubst du, schaffen wir es, so weit zu schwimmen?«

»Pfff«, sagte Anders, »das ist doch wohl ’ne Kleinigkeit. Und wenn sich hier kein Boot findet …«

Neben der Brücke lag ein Schuppen. Kalle ging hin und fühlte an der Tür. Geschlossen! Konnte da drinnen ein Boot sein? Auf jeden Fall ist ein Auto in dem Schuppen, dachte er, als er Spuren im taufrischen Gras sah. Daß dort drinnen das schwarze Auto versteckt war, wußte er plötzlich ganz sicher. Und er empfand eine tiefe Zufriedenheit darüber, daß es ihnen gelungen war, den Kinderräubern zumindest bis hierher zu folgen. Es war richtig gewesen, ihnen sofort zu folgen, das wußte er jetzt. Die Zettelspuren und die Krümelchen von Eva-Lotte hätten der Wind und die Vögel bald vertilgt, und wer hätte später daran gedacht, ausgerechnet hier in dieser öden, menschenleeren Gegend zu suchen.

Kalle warf noch einen abschätzenden Blick auf die Insel. Ja, sie waren gezwungen hinüberzuschwimmen, aber es war nicht so weit, daß sie es nicht hätten schaffen können. Das Motorrad mußten sie zuerst noch im Wald verstecken.

Wie Entdeckungsreisende, die an einer unbekannten Küste an Land gehen, fühlten sie sich, als sie nach der langen Schwimm-tour blaugefroren das Ufer erreichten. Eine fremde Küste split-terfasernackt zu entdecken, war auch keine reine Freude. Man fühlte sich ohne Kleider noch hilfloser und ausgelieferter.

Feinde waren nicht zu sehen. Deshalb setzten sie sich auf eine besonnte Klippe, um trocken zu werden und etwas Wärme in den Körper zu bekommen. Dann lösten sie die Knoten ihrer Kleiderbündel und stellten fest, daß ihre Hemden und Hosen auf keinen Fall zu naß waren, um angezogen zu werden.

»Ich möchte wissen, was die Roten wohl sagen würden, wenn sie von dieser Sache wüßten«, sagte Kalle, den Kopf irgendwo innen in seinem Hemd.

»Die würden sagen, typisch Meisterdetektiv Blomquist«, sagte Anders. »Du stolperst über Strolche und Banditen wie gewöhnlich Menschen über Baumwurzeln.«

Kalle hatte das Hemd nun endlich anbekommen. Nachdenklich den Kopf zur Seite geneigt, stand er vor Anders. Unter dem kurzen Hemd ragten ein Paar lange braune Beine hervor, und der ganze Junge sah sehr kindlich und gar nicht nach Meisterdetektiv aus.

»Ja, sag mal, ist das nicht wirklich eigenartig?« sagte er. »Wo wir immer hineingeraten, unausgesetzt, unausgesetzt …!«

»Ja«, sagte Anders, »was uns passiert, passiert sonst nur in Büchern.«

»Du, Anders, Junge, Junge – vielleicht ist das hier alles ein Buch«, überlegte Kalle.

»Sag mal, du bist wohl nicht ganz bei Troste?«

»Aber, Anders, stell dir doch bloß vor – wir sind nicht da«, sagte Kalle träumend. »Mit einemmal sind wir nur ’n paar Jungs in einem Buch, das sich einer ausgedacht hat.«

»Ja, du vielleicht«, sagte Anders ärgerlich. »Würde mich gar nicht wundern, wenn du überhaupt nur ein Druckfehler wärst. Aber ich nicht. Ich mach’ da nicht mit, verstehst du? Das will ich dir noch ganz deutlich gesagt haben.«

»Kannst du gar nicht wissen«, hielt ihm Kalle entgegen.

»Möglicherweise bist du nur in einem Buch, das ich mir ausgedacht habe.«

»Oho«, sagte Anders. »Wenn es so aussieht, bist du in einem Buch, das ich mir aus gedacht habe, und ob du es glaubst oder nicht – es tut mir schon beinahe leid, daß ich dich überhaupt ausgedacht habe.«

»Übrigens habe ich Hunger!« sagte Kalle.

Sie begriffen gut, daß es fortgeworfene Zeit war, herumzu-hocken und die eigene Existenz zu bezweifeln. Auf sie warteten wirkliche, wichtige und gefährliche Aufträge. Irgendwo dort, hinter all den Tannen und Kiefern, mußte sich ein Haus befinden und ein Schornstein, der einen schmalen Streifen Rauch in die Luft blasen konnte. Irgendwo mußten sich Menschen befinden. Irgendwo mußte Eva-Lotte sein und der kleine Rasmus und der Professor. Es war also notwendig, sie zu finden.

»Da gehen wir entlang«, sagte Kalle und zeigte in den Wald hinein. »Da hinten haben wir nämlich den Rauch gesehen.«

Zwischen dichten Tannen, kleinen, kugeligen Moosrücken, durch Blaubeergestrüpp, über Sandhügel, an Ameisenhaufen vorbei und zwischen Distelbüschen lief ein kleiner Pfad, dem sie folgten. Sie waren sehr still und wachsam, jederzeit bereit, zu fliehen, wenn es nötig sein sollte. Sie fühlten, es wurde gefährlich.

Und als Kalle, der vorausging, sich plötzlich hinter eine Tanne warf, wurde Anders blaß vor Angst. Er folgte ihm blitzschnell und ohne Zeit für Fragen zu verschwenden.

»Da!« flüsterte Kalle und zeigte zwischen die Tannen. »Da sieh mal!«

Aber es war nichts Entsetzliches zu sehen, als Anders langsam, ganz langsam und vorsichtig hinter den Tannen hervorlugte, im Gegenteil. Ein Wochenendhaus, ein wirklich vornehmes Wochenendhaus, und eine offene, sonnenbeschienene Grasfläche davor. Eine schöne kleine Fläche mit samtweichem grünem Gras, ringsum gegen harte Winde durch dichte Tannen geschützt. Und mitten auf der Grasfläche saß der Professor und hatte Rasmus auf dem Knie. Ja, tatsächlich, da saßen sie. Rasmus und der Professor und noch irgend so ein anderer.

»Ich finde, Sie sind sehr unvernünftig, Herr Professor Rasmusson«, sagte der andere.

Besonders vernünftig wirkte der Professor im Augenblick wirklich nicht. Er schien in allernächster Zeit vor Wut explodie-ren zu wollen. Deutlich war auch, daß er sich am liebsten auf sein Gegenüber gestürzt hätte. Nur die Tatsache, daß er gebundene Hände hatte, schien ihn daran zu hindern.