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Das war am Morgen gewesen. Sie hatten vor Eva-Lottes Fenster gestanden und gepfiffen, bereit, beim ersten Zeichen von Gefahr zu fliehen. Und als Nicke mit Eva-Lottes Frühstück zurückkam, hatten sich Anders und Kalle davongeschlängelt wie zwei aufgescheuchte Eidechsen. Im Nu waren sie verschwunden, obwohl ihnen der Duft von dem gebratenen Schinken nicht aus der Nase ging. Sie hörten nur noch Eva-Lottes bitteren Vorwurf gegen Nicke: »Glaubst du, ich bin hierhergekommen, um Hunger-kuren mitzumachen?« Nickes Antwort ging ihnen verloren. Die Eidechsen waren bereits tief im Wald verschwunden.

Sie waren dann zur anderen Seite der Insel übergewechselt.

Dort hatten sie den Tag damit zugebracht, ihre Hütte zu bauen, bei den Felsen zu baden, zu schlafen und Blaubeeren zu essen.

Viel zuviel Blaubeeren. Und jetzt waren sie hungriger, als sie je für menschenmöglich gehalten hatten.

»Aber wir müssen ja warten, bis es dunkel wird«, sagte Anders finster.

Sie krochen aus der Hütte und kletterten auf den Felsen. In einer Spalte machten sie es sich bequem, um die Nacht und das Dunkel, die Rettung vor dem Hungertod, abzuwarten. Da saßen sie nun und beobachteten mit sauren Gesichtern den schönsten Sonnenuntergang ihres Lebens und empfanden wirklich deutlich nur die Ungeduld darüber, daß es so langsam ging. Wie eine Feuersbrunst leuchtete drüben der Himmel über den Baumspitzen des Festlandes. Noch war ein Stück der roten Sonnen-scheibe zu sehen, aber bald würde auch dieses in den dunklen Wäldern dort drüben verschwinden. Die Finsternis, die gute, die gesegnete Finsternis, würde sich dann über Land und Wasser und über alle senken, die Schutz vor Kidnappern brauchten.

Wenn es bloß etwas schneller gehen würde!

Der Felsen fiel steil zum Wasser ab, und unten, wo Fels und Wellen sich trafen, konnte man ein kleines spielerisches Schwabben hören. Irgendwo draußen über dem Fjord schrie wild und melancholisch ein Seevogel, sonst war alles still.

»Es geht mir langsam auf die Nerven«, stellte Kalle fest.

»Und ich denke gerade daran, was die zu Hause wohl sagen«, meinte Anders. »Glaubst du, wir werden schon vom Radio gesucht?«

Anders hatte es kaum ausgesprochen, als sie sich beide des Zettels erinnerten, den Eva-Lotte gestern abend »als Beruhigungspille« zu Hause auf ihr Kopfkissen gelegt hatte. »Stellt Euch bloß jetzt nicht an, ich komme bald zurück, glaube ich.«

Selbst wenn die Eltern in diesem Falle ziemlich ärgerlich und sicher auch über ihr Verschwinden beunruhigt waren, so war damit noch lange nicht gesagt, daß sie nach dem Bescheid von Eva-Lotte Hals über Kopf die Polizei alarmiert hatten. Und wenn Anders’ und Kalles Eltern sich erst einmal mit Bäckermeister Lisander besprochen hatten, so würden sie ja wohl, wenn auch mit einigem Zorn über die vielen dummen Streiche der Weißen Rosen, Ruhe geben. Das war vielleicht auch gut so.

Wer weiß, ob es sehr klug sein würde, die Polizei in diese Angelegenheit hineinzuziehen? Kalle hatte ausreichend viele Kidnapper-Geschichten gelesen, um zu wissen, wie gefährlich das werden konnte. Auf jeden Fall sollte man doch zuerst auf irgendeine Weise mit dem Professor reden.

Bei dem Ingenieur Peters war Licht. Überall sonst war es dunkel. Und still. Es war eine so tiefe Stille, daß man sie fast hören konnte. Alle Menschen hier mußten wohl schlafen.

Nein, es schliefen nicht alle! Schmerzhaft wach lag der Professor auf seinem Bett und quälte sich selbst in endlosem Gegrü-bel. Seit vielen Jahren war er es gewohnt, eine Lösung für die Probleme, die ihn beschäftigten, zu finden. Das Problem, mit dem er sich jetzt zu befassen hatte, war so außerordentlich ver-worren, daß er über alles nur hilflos den Kopf schütteln konnte.

Es gab für ihn keine Möglichkeit, etwas zu tun, – er mußte es sich in ohnmächtiger Wut eingestehen. Er konnte nur warten.

Worauf konnte er warten? Daß ihn jemand vermissen und suchen würde? In Kleinköping bestimmt nicht. Die alte Villa dort hatte er ja gerade deshalb gemietet, weil er allen Menschen fern sein und Ruhe für seine Arbeit haben wollte, bis seine Frau zurückkam. Nur mit Rasmus wollte er dort den Sommer verbringen. Es konnte wirklich noch sehr lange dauern, bis überhaupt jemand bemerkte, daß er verschwunden war.

Als der Professor in seinen Gedanken so weit gekommen war, sprang er heftig von seinem Bett auf. Es war unmöglich einzuschlafen! Kreuz, wenn man doch nur diesen Peters in winzig kleine Stückchen hauen könnte!

Eva-Lotte schlief auch nicht. Sie saß an ihrem Fenster und horchte angespannt auf jeden Laut von draußen. War es nur der Nachtwind, der in den Zweigen raschelte, oder kamen sie nun doch endlich, Kalle und Anders?

Der Tag war lang gewesen, furchtbar lang. Für den, der die Freiheit liebt, ist es unerträglich, einen ganzen Tag lang eingesperrt zu sein. Mit einem Schütteln dachte Eva-Lotte an all die Armen, die in Gefangenschaft schmachten mußten. Sie hätte am liebsten in der ganzen Welt umherlaufen und die Gefängnisse öffnen mögen, um alle Gefangenen aus ihren Löchern zu befreien. Sie wußte ganz gut, daß man nicht alle hätte befreien dürfen – diese Kidnapper hätte sie ja selbst gern hinter Schloß und Riegel gesetzt –, aber jetzt eben spürte sie diesen unsinnigen Wunsch. Denn das war ja das Schlimmste von allem: nicht hinaus dürfen, wenn man gerade wollte!

Etwas wie eine Panik ergriff sie, und sie sprang wild auf das Fenster mit den übergenagelten Latten zu, das sie von der Freiheit trennte. Da fiel ihr Rasmus ein – sie mußte sich beherrschen. Rasmus durfte sie nicht wecken. Er schlief ruhig und zufrieden auf seiner Bank. Sie hörte im Dunkeln seine regelmäßi-gen Atemzüge. Ihre panikartige Angst ging zurück. Sie war ja nicht allein.

Aus der Stille von draußen kam nun endlich das erwartete Signal, das Signal der Weißen Rosen, und bald darauf die hastig gezischte Frage: »Eva-Lotte, hast du was zu essen für uns?«

»Und wie!« sagte Eva-Lotte.

Sie beeilte sich, zwischen den Latten Butterbrote und kalte Kartoffeln und kalte, fettige Wurstscheiben und kalte Schinken-stücke hindurchzuschieben. Sie bekam nicht das kleinste »Danke«

von denen da draußen, denn es war technisch unmöglich, mehr als ein zufriedenes Grunzen während des Kauens auszustoßen.

Nun, da sich Eßbares in Reichweite befand, war ihr Hunger noch rasender als zuvor, und so stopften sie alle Delikatessen, die ihnen Eva-Lotte aus dem Fenster reichte, in sich hinein.

Schließlich mußten sie aber einmal Atem holen, und Kalle murmelte: »Ich hatte völlig vergessen, daß Essen so gut sein kann.«

Eva-Lotte lachte im Dunkeln. Sie war glücklich wie eine Mutter, die ihren hungrigen Kindern Brot gibt. Aber sie flüsterte: »Steckt den Rest in die Taschen. Haltet euch nicht auf.«

»Ja, tatsächlich«, sagte Anders. »Das wäre das beste …«

Kalle unterbrach ihn: »Du, Eva-Lotte, weißt du, wo der Professor ist?«

»Er sitzt eingesperrt in dem Häuschen oben auf dem Felsen«, erwiderte Eva-Lotte. »In dem Häuschen, das der See am nächsten liegt.«

»Glaubst du, daß Rasmus auch dort ist?«

»Nein, Rasmus ist hier bei mir. Er schläft.«

»Ja, ich schlafe«, sagte ein zartes Stimmchen aus der Dunkelheit.

»Ach so, du bist wach«, wunderte sich Eva-Lotte.

»Da soll man wohl aufwachen, wenn Leute so laut schmat-zend Butterbrote essen.« Er kam leise zu Eva-Lotte und kletterte auf ihre Knie. »Sind da wirklich Kalle und Anders gekommen?« fragte er begeistert. »Wollt ihr kämpfen? Darf ich nicht auch eine Weiße Rose werden?«

»Das kommt darauf an, ob du schweigen kannst«, sagte Kalle mit tiefer Stimme. »Du darfst vielleicht eine Weiße Rose werden, wenn du versprichst, niemand zu erzählen, daß du Anders und mich gesehen hast.«

»Mache ich«, sagte Rasmus bereitwillig.

»Du darfst mit keinem Wort gegen Nicke oder irgendeinen anderen erwähnen, daß wir hier gewesen sind. Verstehst du das?«