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Es kam aber niemand, und Anders ruderte aus Leibeskräften.

Bald waren sie außer Hörweite der Insel, und nun legte sich Anders in die Riemen, daß das Wasser nur so zischte. Still saß Kalle auf der Steuerbank und dachte daran, wie sie herüberge-kommen waren. War das wirklich erst gestern früh gewesen?

Ihm kam es vor, als sei seitdem ein halbes Jahr vergangen.

Sie versteckten das Boot im Schilf und rannten umher und suchten das Motorrad. Sie hatten es in einem Wacholderstrauch versteckt, aber wo, um der Barmherzigkeit willen, war dieser Wacholderstrauch geblieben, und wie sollte man ihn jetzt im Dunkeln finden? Etliche kostbare Minuten gingen in verzwei-feltem Suchen dahin. Anders war so aufgeregt, daß er beinahe seine Finger aufgegessen hätte. Wo war das verflixte Rad nur?

Und Kalle kroch in den Sträuchern herum. Ja, da war es, er hatte es endlich gefunden! Liebevoll umschlossen seine Hände die Lenkstange, und eilig schob er das Rad auf den Waldweg hinaus.

Ein Fahrweg von ungefähr fünfzig Kilometern lag vor ihnen.

Kalle sah auf seine Armbanduhr. Die Zeiger leuchteten in der Dunkelheit.

»Es ist halb elf«, sagte er zu Anders, der gar nicht nach der Uhrzeit gefragt hatte. Es hörte sich irgendwie verhängnisvoll an.

Im selben Augenblick sagte Peters zu Nicke: »Es ist halb elf.

Es wird Zeit für uns, über das Wasser zu kommen!«

50 km – 40 km – 30 km noch bis Kleinköping!

Mit der in Jahren erworbenen Sicherheit der Weißen Rosen fanden sie den Rückweg durch die Dunkelheit. Sie flogen fast durch die laue Julinacht, aber der Weg kam ihnen endlos lang vor. Mit angespannten Nerven horchten sie auf ein Geräusch des Autos, das sie hinter sich wußten. Jeden Moment erwarteten sie, vom Scheinwerferlicht, das sich ihnen von hinten nähern mußte, erfaßt zu werden, dachten daran, wie dieses Licht dann an ihnen vorbeigleiten würde, um vor ihnen auf der Straße zu verschwinden und alle Hoffnung auf die Papiere, die so viel be-deuteten, mit sich zu nehmen.

»Kleinköping 20 km«, las Anders auf einer Wegtafel. Jetzt näherten sie sich dem heimatlichen Gebiet.

Ungefähr gleichzeitig kam ein schwarzes Auto an einer anderen Wegtafel vorbei.

»Kleinköping 36 km«, las Nicke. »Geben Sie man noch’n bißchen Gas, Chef!«

Aber Peters fuhr, wie es ihm behagte. Er nahm eine Hand vom Steuerrad, um Nicke eine Zigarette anzubieten, und sagte zufrieden: »Wenn ich so lange gewartet habe, kann ich ja auch noch die halbe Stunde warten!«

Kleinköping! Da liegt die Stadt und schläft so ruhig, wie sie es gewohnt ist. Es ist beinahe aufregend, denken Kalle und Anders. Das Motorrad fährt sie durch wohlbekannte Straßen, nimmt den Weg hinauf zur Schloßruine und bleibt endlich draußen vor Eklunds Villa stehen und wird in den Schuppen geschoben.

Das schwarze Auto hat nur noch einige Kilometer bis zu der kleinen Tafel am Wegrand, die freundlich verkündet: »Will-kommen in Kleinköping!«

»Das ist das Alleraufregendste, was ich jemals mitgemacht habe«, flüstert Anders, als sie auf die Veranda schleichen. Vorsichtig drückt er auf den Türgriff. Nicht abgeschlossen! Kann nicht viel Verstand in den Kidnapperköpfen sitzen, wenn sie nicht hinter sich zuschließen, denkt Kalle. Kann man die Türen offenlassen, wenn in dem Haus Papiere im Wert von hunderttausend Kronen versteckt sind? Aber um so besser – das spart Zeit! Kalle fühlt am ganzen Körper: Zeit ist jetzt kostbar.

»Hinter dem Bücherregal« – welchem Bücherregal? Doktor Eklund, der die Villa für den Sommer an den Professor vermie-tet hat, ist ein Mann mit vielen Büchern und mit vielen Bücherregalen. Im Wohnzimmer sind Bücherregale an jeder Wand.

»Das wird uns die ganze Nacht kosten«, sagt Anders. »Wo sollen wir anfangen zu suchen?«

Kalle denkt – trotz der kostbaren Zeit – nach. Manchmal aber lohnt es sich, ein wenig Zeit für das Nachdenken zu opfern.

Was hatte Rasmus zu seinem Vater gesagt? »Ich stand auf der Treppe in der Diele, und du stecktest …« Wo stand Rasmus, als er das sah? Kalle läuft in die Diele, und auf welcher Stufe der Treppe er auch steht, es gibt nur ein Bücherregal, das Kalle durch die offene Tür des Wohnzimmers sehen kann, das Regal neben dem Schreibtisch.

Er rast zurück ins Wohnzimmer, und mit vereinten Kräften ziehen sie das Regal von der Wand. Das Regal quietscht dabei nervenzerreißend auf dem Fußboden. Es ist ein sehr störendes Geräusch. Es ist gerade jetzt das einzige Geräusch, das in ihre Ohren dringt. Das Auto, das auf dem Weg vor der Villa anhält, hören sie nicht.

»So – so – so«, noch ein kräftiger Zug, dann können sie hinter das Regal sehen! Guter Moses – da ist es! Ein brauner Umschlag, sauber mit Heftzwecken an der Rückwand des Bücherregals festgemacht. Kalles Finger tanzen vor Aufregung, als er sein Taschenmesser hervorsucht und die Heftzwecken lockern will.

»Daß wir es doch geschafft haben«, keucht Anders, vollkommen blaß vor Spannung. »Daß wir es doch noch geschafft haben!«

Kalle hält den kostbaren Umschlag in seiner Hand. An-dachtsvoll sind seine Augen auf das braune Papier gerichtet –dafür ist es aber auch hunderttausend Kronen wert. Ja, mit Geld ist es wohl überhaupt nicht zu bewerten. Welch eine Stunde!

Welch ein Triumph, welch ein süßes, warmes, durchdringendes Gefühl von Zufriedenheit!

Da hören sie etwas! Etwas Furchtbares. Schleichende Schritte auf der Veranda. Eine Hand am Türgriff. Die Haustür öffnet sich langsam. Das Licht der Schreibtischlampe fällt auf ihre bleichen Gesichter. Verzweifelt starren sie sich an; der Schreck läßt sie kaum atmen. In einigen winzigen Sekunden wird die Tür dort aufgehen, und dann ist alles verloren. Sie werden gefangen sein wie zwei kleine Ratten in der Falle. Einer wird den Eingang bewachen. Einer wird sie niemals mit dem kostbaren braunen Umschlag im Wert von hunderttausend Kronen entkommen lassen.

»Schnell, schnell«, haucht Kalle, »die Treppe hinauf!«

Die Beine versagen fast den Dienst, aber auf irgendeine übernatürliche Weise gelingt es ihnen, die Diele und die Treppe zu erreichen. Dann geschieht alles in so rasender Eile, daß die Gedanken und jede Vernunft verschwinden, untergehen in einem Chaos aus Lärm und Krach: aufgeregten Stimmen, schlagenden Türen, lautem Gerufe, Flüchen und dem Tappen wild die Treppe hinaufhetzender Schritte, ja – Hilfe! – Hilfe! – wild hinaufhetzender Schritte dicht hinter ihnen!

Da ist das Fenster mit der Gardine, die ihnen so spielerisch in einer Nacht vor tausend Jahren zugewinkt hat. Draußen steht eine Leiter – vielleicht, vielleicht ist sie der Rettungsweg. Sie wälzen sich über das Fensterbrett auf die Leiter hinaus, klettern, rutschen, nein: sausen an ihr hinunter und laufen, laufen, wie sie in ihrem jungen Leben bisher noch nie gelaufen sind. Sie laufen, obgleich sie die eiskalte Stimme oben im Fenster hören, die Stimme von Peters, der ihnen nachruft: »Wenn ihr nicht ste-henbleibt, schieße ich!«

Aber alle Vernunft ist verschwunden. Sie laufen weiter, weiter, immer weiter, als hätten sie nicht verstanden, daß es vielleicht ihr Leben gilt. Sie laufen und laufen, bis sie glauben, die Brust platze ihnen auseinander.

Und sie hören sie wieder, springende Füße, die sich nähern –wo in aller Welt gibt es ein Versteck vor diesen springenden, verfolgenden Füßen? Sie laufen auf die Stadt zu. Weit ist es bis dahin nicht mehr, aber ihre Kräfte gehen zu Ende. Und unbarmherzig nähern sich die Verfolger. Es gibt keine Rettung, alles ist verloren – in wenigen Augenblicken ist alles vorbei!

Da sehen sie ihn! Beide sehen ihn. Dort blinkt die erste Straßenlaterne, und ihr Schein fällt auf eine wohlbekannte, lange Gestalt in der Uniform eines Polizisten.

»Onkel Björk, Onkel Björk, Onkel Björk!«