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Da hörte sie in der Entfernung Stimmen. Stimmen, die sich näherten und die sie kannte, und kurz danach den Laut von zer-brechenden Ästen, die jemand zertrat. Daß man einen solchen Schreck bekommen konnte! Ohne davon zu sterben! Nein, man starb nicht, wurde vom Schreck nur so gelähmt, daß man kein Glied rühren konnte und nur fühlte, wie das Herz wild und quälend in der Brust trommelte. Es waren Nicke und Blom, die zwischen den Bäumen näher kamen. Dieser Svanberg war sicher auch dabei.

Es gab nichts, was sie hätte tun können. Rasmus schlief. Sie konnte ihn nicht wecken und davonlaufen. Damit war nichts erreicht. Weit würden sie nicht kommen. Man konnte also ebensogut sitzenbleiben und abwarten, daß man gefangen würde.

Jetzt waren sie so dicht herangekommen, daß Eva-Lotte verstehen konnte, was sie redeten.

»Noch nie habe ich Peters so rasend gesehen«, sagte Blom.

»Und das wundert mich gar nicht. Du bist eine ziemliche Nuß, Nicke.«

Nicke brummte. »Das war dieses Mädchen«, sagte er. »Mit der möchte ich jetzt mal ein passendes Wörtchen reden. Warte nur, bis ich sie erwischt habe.«

»Das kann ja nicht mehr so lange dauern«, meinte Blom.

»Auf der Insel müssen die beiden ja noch sein.«

»Sei nur ruhig«, sagte Nicke. »Ich werde sie schon finden, und wenn ich jeden Busch einzeln durchsuchen sollte.«

Eva-Lotte schloß die Augen. Zehn Schritte waren sie noch von ihr entfernt, und sie wollte sie nicht sehen. Sie hielt die Augen geschlossen und wartete. Wenn sie sie doch nur schnell packen würden, dann konnte sie doch endlich losweinen – darauf hatte sie schon so lange gewartet.

Sie saß, mit dem Rücken an den großen moosbewachsenen Stein gelehnt, hielt die Augen geschlossen und hörte hinter diesem Stein die Stimmen. So nahe! Bald darauf nicht mehr ganz so nahe, gar nicht mehr so nahe.

Gingen sie fort? Schwächer und schwächer wurden die Stimmen, bis sie schließlich nicht mehr hörbar waren und es so verwunderlich still um sie her wurde. Nur ein kleiner Vogel zwitscherte einsam in einem Busch. Lange, lange saß sie im Moos. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wollte nur noch sitzenbleiben, ohne jede Bewegung, und sich in diesem Leben nichts mehr vornehmen.

Schließlich wachte Rasmus auf, und Eva-Lotte begriff, daß sie sich zusammennehmen mußte.

»Komm jetzt, Rasmus«, sagte sie, »wir können nicht länger hier sitzen bleiben.«

Unruhig sah sie sich um. Die Sonne schien nicht mehr. Gro-

ße, dunkle Wolken segelten am Himmel dahin. Es zog sich wohl zu einem Abendregen zusammen. Die ersten schwachen Tropfen fielen bereits.

»Ich will zu meinem Vati«, sagte Rasmus. »Ich will nicht mehr im Wald bleiben, ich will zu meinem Vati gehen!«

»Wir können jetzt nicht zu deinem Vati«, sagte Eva-Lotte verzweifelt. »Wir müssen versuchen, Kalle und Anders zu finden, sonst weiß ich nicht, wie es mit uns weitergehen soll!«

Sie bahnten sich ihren Weg durch die Blaubeersträucher, und Rasmus folgte ihr knurrend wie ein kleiner Hund.

»Ich will was zu essen haben«, schimpfte er. »Und dann will ich meine Borkenboote haben.«

Eva-Lotte sagte nichts mehr, sie schwieg. Da hörte sie hinter sich bitterliches Schluchzen. Sie wandte sich um und sah die kleine unglückliche Gestalt, die dort zwischen den Blaubeeren stand und mit zitterndem Mund große Tränen weinte.

»O Rasmus, weine bitte nicht«, bat Eva-Lotte, obwohl sie selbst nichts lieber getan hätte. »Weine nicht! Lieber kleiner Rasmus, warum weinst du denn?«

»Ich weine, weil …« schluckte Rasmus. »Ich weine, weil doch … weil doch Mutti in Indien ist!«

Auch wer eine Weiße Rose werden wollte, durfte ja schließlich weinen, wenn die Mutti in Indien war.

»Ja, aber sie kommt doch bald wieder«, sagte Eva-Lotte tröstend.

»Deshalb weine ich aber trotzdem«, schrie Rasmus trotzig.

»Weil ich vergessen habe, schon früher deswegen zu weinen, dumme Eva-Lotte!«

Der Regen nahm zu. Unbarmherzig und kalt strömte er herunter und hatte bald ihre dünnen Kleider durchnäßt. Gleichzeitig wurde es immer dunkler. Die Schatten zwischen den Bäumen waren tief. In Kürze würden sie keinen Schritt weit mehr sehen können. Sie stolperten weiter, naß, ohne Hoffnung, hungrig und verzweifelt.

»Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist«, weinte Rasmus. »Stell dir vor, daß ich das nicht will …«

Eva-Lotte strich sich ein paar Wassertropfen aus dem Gesicht. Vielleicht waren auch Tränen dabei. Sie blieb stehen. Sie drückte Rasmus an sich und sagte mit zitternder Stimme:

»Rasmus, eine Weiße Rose muß doch tapfer sein. Jetzt sind wir beide Weiße Rosen und wollen zusammen etwas Großartiges machen.«

»Was denn?« fragte Rasmus.

»Wir werden unter eine Tanne kriechen und dort bis zum Morgen schlafen.«

Der kleine zukünftige Ritter der Weißen Rose schrie, als säße ein Messer in ihm.

»Ich will nicht im Wald sein, wenn es dunkel ist! Hörst du es, dumme Eva-Lotte, ich will nicht! – Ich will nicht! Ich will nicht.«

»Aber in unserer Hütte möchtest du doch sicher sein?«

Kalles Stimme sagte das. Kalles ruhige, sichere Stimme. Sie war schöner als die eines Erzengels, fand Eva-Lotte. Nicht weil sie schon einen Erzengel gehört oder gesehen hätte, nein, weil sie sicher war, daß er, trotz all seiner Größe und Herrlichkeit, sich niemals mit Kalle, der ihnen dort mit einer Taschenlampe aus dem Dunkel entgegenkam, messen konnte.

Die Tränen drängten sich aus Eva-Lottes Augen. Aber nun durften sie gerne kommen.

»Kalle, bist du es … bist du es wirklich … wirklich du?« sagte sie schluchzend.

»Wie in aller Welt seid ihr hierhergekommen?« fragte Kalle.

»Seid ihr geflohen?«

»Und ob«, sagte Eva-Lotte. »Den ganzen Tag lang!«

»Ja, wir sind geflohen, damit ich eine Weiße Rose werden kann«, versicherte Rasmus.

»Anders!« schrie Kalle. »Anders, komm her, ich will dir ein Wunder zeigen! Eva-Lotte und Rasmus sind hier!«

Sie saßen in der Hütte auf den Tannenzweigen und waren sehr glücklich. Es regnete noch immer, und das Dunkel zwischen den Bäumen draußen war noch schwärzer geworden.

Aber was tat das? Hier drinnen war es mollig und warm, sie hatten trockene Kleider: Das Leben war nicht mehr so sauer und widerwärtig wie noch vor kurzem. Das kleine blaue Feuer von Kalles Spirituskocher flackerte munter unter dem Topf mit hei-

ßem Kakao, und Anders schnitt Brot zu ganzen Scheibenbergen.

»Es ist so schön, daß man es gar nicht glaubt«, sagte Eva-Lotte mit einem zufriedenen Seufzer. »Ich bin trocken, mir ist warm, und wenn ich noch so drei, vier, fünf, sechs Butterbrote essen darf, werde ich auch satt sein.«

»Aber ich möchte mehr gebratenen Speck haben«, sagte Rasmus. »Und mehr Kakao.«

Er streckte seinen Becher vor und bekam ihn nachgefüllt. Er trank den warmen Kakao in tiefen, genießerischen Schlucken, ohne mehr als einige Tropfen auf Kalles Trainingsoverall zu verschütten. Der Overall, den er bekommen hatte, war ihm viel zu groß, und er verschwand fast in der schönen wolligen Wärme. Zufrieden zog er die Zehen ein, damit auch nicht das kleinste Stück von ihm draußen war und etwa frieren mußte. Oh, wie war das alles herrlich, diese Hütte und der Overall und die Schinkenbrote – alles war herrlich.

»Jetzt bin ich wohl beinahe eine Weiße Rose?« fragte er neugierig zwischen dem Kauen.

»Na, viel fehlt da nicht«, versicherte Kalle.

Er selbst war in diesem Moment so zufrieden und glücklich, wie nur ein Mensch sein konnte. Unvorstellbar, wie sich alles eingerenkt hatte! Rasmus gerettet, die Papiere gerettet, bald sollte der ganze Alpdruck vorbei sein.