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Kalle schlängelte sich zwischen den Tannen vorwärts. Jetzt war er schon so dicht heran, daß er Nicke über irgend etwas im Haus toben und fluchen hören konnte. Er hörte auch die zufriedenen Stimmen der anderen. Nicke, das war klar, wurde nicht mehr mißhandelt – weshalb war er also so wild? Und warum blieb er in dem Haus, anstatt draußen nach Kalle zu suchen?

Und was lag dort vor Kalles Nase und glänzte aus den Tannen-nadeln hervor? Es war ein Schlüssel. Kalle hob ihn auf und betrachtete ihn genau. Konnte es der Schlüssel zu Eva-Lottes Haus sein? Wie war er hierhergekommen? Ein neues Geschrei von Nicke beantwortete Kalles Fragen.

»Peters, Hilfe!« schrie Nicke. »Die haben mich eingeschlossen. Kommen Sie, schließen Sie auf!«

Kalle lachte leise. Nicke war mit seinen Gefangenen eingeschlossen. Das war ein Punkt für die Weiße Rose. Zufrieden steckte Kalle den Schlüssel in die Hosentasche.

Da hörte er auch schon, wie Peters, Blom und Svanberg an gelaufen kamen. Er wurde steif vor Schreck. In einigen Minuten würden sie Wettjagen auf ihn machen, und sie würden ihn suchen wie nie zuvor. Denn das mußte Peters einen entsetzlichen Stich geben – daß Kalle wieder auf freiem Fuß war. Es würde ihm sofort klar sein, daß Kalle mit allen Mitteln versuchen würde, Hilfe herbeizuschaffen. Deshalb gab es für Peters nichts Wichtigeres, als um jeden Preis zu verhindern, daß Kalle die Insel verließ. Er würde diesmal vor nichts zurückschrecken, das wußte Kalle, und diese Gewißheit ließ ihn unter der Sonnenbräune blaß werden. Da lag er und horchte voller Angst auf die laufenden Männer, die sich näherten. Er mußte ein Versteck für sich finden, er mußte es sofort finden, innerhalb weniger kostbarer Sekunden.

Da sah er es, gerade vor seinen Augen. Ein märchenhaftes Versteck. Dort würde man ihn vorerst nicht suchen. Unter dem Haussockel war eben so viel Platz, daß man einigermaßen bequem liegen konnte. Nur hier auf der Rückseite war der Haussockel so hoch, weil das Haus auf einem Abhang, gegen die See zu, lag. Am Sockel wuchs hohes Gras und große Mengen von rotem Phlox, die einen recht gut davor schützten, gesehen zu werden, falls doch jemand den Einfall bekam, auf der Rückseite des Hauses zu suchen. Flink wie ein Wiesel kroch Kalle, so weit er kommen konnte, unter den Sockel. Wenn sie hier nach mir suchen, sind sie nicht normal, dachte er. Wenn sie nur etwas Verstand im Kopf hatten, dann suchten sie doch wohl einen Flüchtling so weit wie möglich von seinem Gefängnis entfernt und nicht direkt unter seinem Gefängnisfußboden.

Er lag da und hörte das Erdbeben, das losbrach, als Peters die Zusammenhänge begriffen hatte: daß Nicke eingeschlossen und Kalle verschwunden war.

»Lauft!« schrie Peters wie ein Wahnsinniger. »Lauft und packt ihn! Kommt mir nicht ohne ihn zurück, oder ich übernehme keine Verantwortung für das, was ich tun werde!«

Blom und Svanberg liefen los, und Kalle hörte, wie Peters fluchend einige Schlüssel probierte und dann mit einem die Tür zu den Gefangenen öffnete. Und dann gab es über seinem Kopf ein noch größeres Erdbeben. Der arme Nicke verteidigte sich standhaft, aber Peters war nicht zu halten. Eine Schimpfkano-nade von solchem Ausmaß hatte Nicke sicher noch nie über sich ergehen lassen müssen. Sie nahm und nahm kein Ende, jedenfalls nicht, bevor sich Rasmus einmischte.

»Daß du so ungerecht sein kannst, Peters«, sagte er. Kalle konnte die kleine feste Stimme so deutlich hören, als wäre er selbst im Zimmer. »Immer und immer bist du ungerecht. Nicke kann doch wohl nichts dafür, wenn ich die Tür abgeschlossen und den Schlüssel zum Fenster rausgeworfen habe.«

Peters antwortete nur mit einem dumpfen Gebrüll. Dann schrie er Nicke an: »Raus mit dir und den Kerl gesucht! Ich werde sehen, ob ich den Schlüssel finde.«

Kalle zuckte zusammen. Wenn Peters den Schlüssel suchte, konnte er seinem Versteck gefährlich nahe kommen, ganz gefährlich nahe.

Es war wirklich ein Hundeleben. Praktisch mußte man jeden Augenblick mit neuen Gefahren rechnen. Kalle dachte und handelte schnell. Er hörte, wie Nicke fortrannte und Peters die Tür abschloß. Zur selben Zeit verließ er sein Versteck und sprang hinter einen dicken Baum. Und als er Peters um die Hausecke biegen sah, lief er lautlos zum Eingang, den Peters gerade verlassen hatte. Kalle nahm den Türschlüssel aus der Hosentasche, und zum unvorstellbaren Erstaunen von Eva-Lotte und Anders kam er durch die Tür, keine ganze Minute später, nachdem sie Peters und Nicke dort hatten verschwinden sehen.

»Nun bist du ruhig«, sagte Eva-Lotte mit leiser Stimme zu Rasmus, denn es sah aus, als wolle er sich zu Kalles unerwarteter Rückkehr äußern.

»Ich habe doch gar nichts gesagt«, brummelte Rasmus beleidigt. »Aber wenn Kalle …«

»Sch«, sagte Anders und zeigte warnend auf Peters, der draußen in allernächster Nähe des Fensters herumwühlte und deutlich verärgert war, dort keinen Schlüssel zu finden.

»Eva-Lotte, singe«, flüsterte Kalle, »damit Peters nicht hört, wenn ich die Tür zuschließe.«

Und Eva-Lotte stellte sich vor dem Fenster auf und sang aus vollem Hals:

»Glaubst du denn, daß ich ver-lo-o-o-ren bin, Noch lange nicht, oh-ho-ho nein, no-o-och lange nicht …«

Dieser schöne Gesang schien Peters keine rechte Freude zu bereiten. Er sah irritiert zum Fenster. »Ruhe mit dir!« schrie er und suchte dann weiter.

Mit einem Ast stöberte er im Gras unter dem Fenster herum und bog die Blumen beiseite. Sie konnten ihn still vor sich hin fluchen hören, denn einen Schlüssel fand er nicht. Dann gab er das Suchen auf und verschwand. Atemlos standen sie da. Horchten und warteten. Würde er nach Haus gehen oder zu ihnen zurückkommen und Kalle finden? Sie horchten, bis sie das Gefühl hatten, ihre Ohren stächen wie Hörrohre aus ihren Schädeln.

Horchten und hofften schon … Aber dann hörten sie doch Peters’ Schritte vor der Tür. Er kam zurück, o du guter Moses, er kam zurück! Sie starrten sich an, vollkommen aufgelöst, vollkommen bleich, vollkommen außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen.

Kalle bekam zuerst seine Fassung wieder. Mit einem Schritt sprang er hinter den großen Vorhang, der die Waschgelegen-heit verdeckte, gleich danach wurde die Tür geöffnet, und Peters kam herein. Eva-Lotte blieb stehen und schloß die Augen.

Nimm ihn fort, dachte sie, nimm ihn fort, oder ich überlebe es nicht … Und wenn Rasmus jetzt anfängt zu reden …

»Ihr sollt Schläge kriegen, sobald ich Zeit habe«, sagte Peters. »Schläge sollt ihr bekommen, daß es nur so pfeift. Aber erst, wenn ich zurückkomme. Und wenn ihr euch bis dahin nicht völlig ruhig verhaltet, sollt ihr noch einmal so viel Schläge haben. Habt ihr verstanden?«

»Ja, vielen Dank«, sagte Anders.

Rasmus kicherte. Er hatte gar nicht auf das gehört, was Peters gesagt hatte. Er war nur von einem Gedanken besessen – daß Kalle hinter dem Vorhang stand! War das nicht das allerschönste Versteckspiel? Eva-Lotte folgte ängstlich seinem Mienenspiel.

Schweig, Rasmus, schweig, bat sie beschwörend in sich selbst.

Aber Rasmus hatte ihr inneres Gebet wohl nicht gehört. Er kicherte unheilverkündend.

»Warum kicherst du?« fragte Peters böse.

Rasmus sah ihn froh und geheimnisvoll an.

»Das wirst du niemals raten können …« fing er an.

»Diesmal wachsen aber besonders viele Blaubeeren hier auf der Insel!« schrie Anders mit hoher, sich beinahe überschlagen-der Stimme. Er hätte so gern mehr geschrien, aber in seiner Seelennot fiel ihm nichts mehr ein. Peters sah ihn voller Abscheu an.

»Willst du witzig sein?« fragte er. »Das kannst du dir sparen.«

»Haha, Peters«, fuhr Rasmus unbeirrt fort, »du weißt nicht, wer …«

»Ich finde, es gibt nichts Schmackhafteres als Blaubeeren«, schrie Anders noch lauter. Peters schüttelte den Kopf.

»Ganz klug scheinst du nicht zu sein«, sagte er. »Aber das macht nicht viel aus. Ich gehe jetzt. Ich will euch nur noch einmal warnen: Stellt nicht noch mehr Unfug an.« Er ging zur Tür. Aber er zögerte, bevor er ging. »Ist ja wahr«, sprach er halblaut zu sich selbst. »Vielleicht sind hier ein paar Rasierklingen im Toilettenschrank.«

Toilettenschrank – der war an der Wand. Hinter dem Vorhang.

»Rasierklingen!« brüllte Eva-Lotte. »Rasierklingen – ist ja ulkig, die habe ich – alle aus Versehen aufgegessen – ich meine –ich – ach ja, ich habe sie verschluckt, bestimmt. Und dann habe ich auf den Rasierpinsel gespuckt.«

Peters starrte sie mit gesenktem Kopf an. »Eure Eltern, die können einem leid tun«, sagte er leise, drehte sich um und verschwand.

Wieder waren sie allein. Sie saßen zu dritt auf einer Bank und unterhielten sich mit leiser Stimme über das, was geschehen war. Auf dem Boden vor ihnen hockte Rasmus und ließ sich kein Wort entgehen.

»Es stürmt zu sehr«, sagte Kalle. »Wir können nichts anfangen, bevor es sich aufgeklärt hat.«

»Manchmal gibt es sogar Windstärke neun«, sagte Anders als kleine Ermunterung.

»Was willst du tun, während du wartest?« fragte Eva-Lotte beunruhigt.

»Ich werde wie eine Kröte unter dem Haussockel liegen«, sagte Kalle. »Und wenn Nicke den letzten Rundgang gemacht hat, komme ich zu euch, esse und schlafe hier.«

Anders lachte: »Wenn wir das alles doch bloß einmal mit den Roten machen könnten, es wäre zu schön.«

So saßen sie lange Zeit. Aus dem Wald klang das Rufen und Schreien von Peters, Nicke und Blom, die dort nach Kalle suchten.

»Ja, sucht nur«, sagte Kalle grimmig. »Mehr als Blaubeeren werdet ihr dort nicht finden.«

Es wurde Abend, und es wurde dunkel. Kalle konnte schon nicht mehr in der Enge unter dem Sockel liegen. Er mußte raus und sich bewegen, bevor ihm Arme und Beine endgültig ein-schliefen. Zu den anderen hineinzugehen, war es noch zu früh.

Nicke hatte die Abendrunde noch nicht gemacht. Leise und vorsichtig ging Kalle im Dunkeln auf und ab.

Er sah im Hause bei Peters Licht. Das Fenster war offen, und er hörte ein schwaches Gemurmel von Stimmen. Wor-

über sprachen sie da drinnen? Wenn man sich ganz, ganz leise heranschlich und unter das Fenster stellte, vielleicht konnte man das eine oder andere Nützliche hören. Er schlich näher.

Immer einen Schritt nach dem anderen. Horchte immer zwischen zwei Schritten und stand dann endlich unter dem Fenster.

»Ich habe das Ganze satt«, hörte er Nicke mit unwirscher Stimme sagen. »Ich habe das alles bis in die Fußspitzen satt, ich will nichts mehr damit zu tun haben.«

Und dann Peters ruhig und eiskalt: »Aha, du willst nichts mehr damit zu tun haben! Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil es nicht recht ist, mit Kindern so umzuspringen.«

»Sieh dich vor, Nicke«, sagte Peters. »Ich brauche dir wohl nicht erst zu schildern, wie es dir ergehen wird, wenn du versuchst abzuspringen.«

Eine Weile war es still. Dann sagte Nicke schließlich gräm-lich: »Na ja, natürlich, ich weiß schon.«

»Na also«, fuhr Peters fort. »Und ich warne dich, noch mehr Dummheiten zu machen. Du sprichst so närrisch, daß man dich fast im Verdacht haben könnte, du hättest den Jungen absichtlich laufenlassen.«

»Nu hör aber mal, Chef«, fuhr Nicke auf.

»Sicher, sicher, so dumm kannst ja nicht einmal du sein«, sagte Peters. »Sogar du müßtest doch verstehen, was es für uns bedeutet, wenn er geflohen ist.« Nicke antwortete nicht. »Nie in meinem Leben habe ich solche Angst ausgestanden«, sprach Peters weiter. »Wenn das Flugzeug nicht bald kommt, wird alles schiefgehen, davon kannst du überzeugt sein.«

Flugzeug? Kalle spitzte die Ohren. Was für ein Flugzeug sollte da kommen? Sein Nachdenken wurde unterbrochen. Durch die Dunkelheit kam jemand, jemand mit einer Taschenlampe. Er kam aus dem kleinen Haus, das vor dem Felsen lag, auf dem das Haus des Professors stand. Sicher ist es Blom oder Svanberg, dachte Kalle, als er sich fest gegen die Hauswand preßte. Aber er brauchte keine Angst zu haben. Der Mann hatte es eilig, und einen Augenblick später hörte Kalle, wie er im Haus zu den anderen sprach.

»Das Flugzeug trifft morgen früh sieben Uhr hier ein«, hörte er ihn sagen und erkannte Bloms Stimme.

»Gott sei Dank!« sagte Peters. »Ich bin froh, hier wegzukommen. Hoffentlich wird das Wetter so, daß sie landen können.«

»Doch, sicher, das Wetter klärt sich weiter auf«,beruhigte Blom. »Die wollen einen neuen Bericht haben, bevor sie starten.«

»Gib ihn durch«, sagte Peters. »Hier in der Bucht wird das Wetter ja auf jeden Fall so sein, daß sie auf das Wasser runtergehen können. Und du, Nicke, sieh zu, daß du den Kleinen bis sieben Uhr fertig hast!«

Kleinen – damit war natürlich Rasmus gemeint! Kalle ballte die Fäuste. Aha, nun sollte alles beendet werden. Rasmus sollte fort von hier. Er würde weit weg sein, bevor es Kalle gelang, ir-gendwelche Hilfe herbeizuholen. Armer kleiner Rasmus, wo will man mit dir hin? Und was werden sie mit dir machen? Es war eine Schweinerei!

Man konnte denken, Nicke habe Kalles Gedanken gehört.

»Schweinerei!« sagte er. »Das ist eine Schweinerei. Ein armer kleiner Junge, der nichts Böses getan hat. Ich habe absolut keine Lust, dabei zu helfen. Den setzen Sie man selbst ins Flugzeug, Chef!«

»Nicke«, sagte Peters, und seine Stimme war beängstigend scharf und schneidend, »ich habe dich gewarnt, und jetzt warne ich dich zum letzten Mal. Sieh zu, daß der Junge morgen früh um sieben Uhr fertig ist!«

»Zum Teufel!« sagte Nicke. »Chef, Sie wissen ebenso gut wie ich, daß das Wurm dabei umkommen kann, und Sie wissen auch, daß der Professor vor die Hunde geht!«

»Oh, das weiß ich noch nicht so genau«, sagte Peters leichthin. »Wenn der Professor sich vernünftig benimmt … übrigens gehört das nicht hierher.«

»Zum Teufel!« sagte Nicke noch einmal.

Kalle hatte einen Kloß im Hals. Er war so traurig, alles war so ohne Hoffnung. Sie hatten versucht, wirklich versucht, mit all ihren Kräften versucht, Rasmus und dem Professor zu helfen.

Aber es hatte nichts genützt. Diese bösen Menschen gewannen das Spiel. Armer, armer Rasmus.

Kalle stolperte voller Verzweiflung durch die Dunkelheit. Er mußte versuchen, den Professor zu sprechen. Er mußte ihn auf das Flugzeug vorbereiten, das sich morgen früh wie ein großer Raubvogel auf die Insel stürzen wollte, um die Klauen in Rasmus zu schlagen. Das auf dem Wasser in der Bucht landen würde, sobald Blom durchgegeben hatte, daß sich das Wetter hin-reichend aufklärte.

Kalle blieb plötzlich stehen. Wie gab Blom das eigentlich weiter? Donnerwetter, wie tat er das nur? Kalle pfiff durch die Zähne. Natürlich! Es mußte hier irgendwo auf der Insel eine Sendestation geben! Alle Spione und Schurken, die mit dem Ausland in Verbindung standen, benutzten dazu den Äther.

Ein kleiner Gedanke begann in Kalles Gehirn zu arbeiten. Eine Radioanlage – ein Sender, das war genau das, was er selbst jetzt brauchte. Himmel, wo war dieser Sender? Er mußte ihn finden. Vielleicht, vielleicht gab es doch noch eine ganz winzig kleine Chance, etwas Hoffnung. Dort aus dem kleinen Haus war Blom gekommen! Dort lag es vor ihm. Ein schwaches Licht drang aus dem Fenster. Kalle zitterte vor Aufregung. Wie oft hatte diese Insel ihn nicht schon zum Zittern gebracht, dachte er,

schlich sich vor und sah durch das Fenster. Er sah keinen Menschen. Aber – größere Wunder waren auf dieser Welt nicht mehr möglich – die Sendestation sah er. Ja, sie war in dem Haus.