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Aber alles ist ruhig. Es sieht aus, als sei der Weg frei. Er sucht in der Hosentasche nach dem Schlüssel. Sucht und sucht …

»Nein, nein, nein«, jammert Eva-Lotte, »komm mir jetzt nur nicht damit, daß du den Schlüssel verloren hast!«

»Er muß hier sein«, sagt Kalle und ist so aufgeregt, daß seine Hände fliegen. »Er muß hier sein.«

Aber soviel er auch wühlt, seine Hosentasche bleibt leer. Er hat nie etwas Leereres gefühlt als diese Hosentasche. Anders und Eva-Lotte schweigen. Sie beißen auf ihren Fingern herum und warten. Die Sekunden gehen. Diese kostbaren Sekunden.

Fieberhaft suchen sie den Fußboden ab.

»Vielleicht ist er herausgefallen, als man mich gestern abend hierhergetragen hat«, meint Kalle.

»Ja, warum sollte er nicht herausgefallen sein«, sagt Eva-Lotte verbittert. »Diese Insel sollte ›Insel der Zufälle‹ heißen.

Was soll man hier schon anderes erwarten, als daß ein Schlüssel, den man dringend braucht, so einfach zufällig herausfällt!«

Sie suchen weiter. Nur Rasmus sucht nicht mit. Er hat angefangen, mit seinen Borkenbooten zu spielen. Sie fahren über Kalles Bank, und diese Bank ist jetzt der »Große Stille Ozean«. Im Großen Stillen Ozean schwimmt ein Schlüssel, und Rasmus nimmt ihn heraus und läßt ihn Kapitän auf einem Schiff werden, das »Hilda von Göteborg« heißt. Nicke hat dem Boot diesen wundervollen Namen gegeben. So hieß nämlich auch das Schiff, auf dem Nicke vor langer, langer Zeit einmal Leichtmatrose war.

Die Sekunden gehen dahin. Kalle, Anders und Eva-Lotte suchen verzweifelt und sind so fertig, daß sie vor Nervosität schreien möchten. Aber Rasmus und der Kapitän auf der »Hilda von Göteborg« sind nicht ein bißchen nervös. Sie segeln über den Großen Stillen Ozean und finden alles herrlich, bis Eva-Lotte mit einem Aufschrei den Kapitän von der Kommando-brücke reißt und die »Hilda von Göteborg« herrenlos ihrem Schicksal in der schweren Brandung überläßt.

»Schnell, weg!« ruft Eva-Lotte und gibt Kalle den Schlüssel.

Bevor er ihn in das Schloß stecken kann, hört er etwas und wirft einen entsetzten Blick auf die anderen.

»Es ist zu spät, sie kommen«, sagt er nur.

Eigentlich eine überflüssige Erklärung, denn die Gesichter von Anders und Eva-Lotte zeigen deutlich, daß sie es genauso gut gehört haben wie er selbst. Die Schritte, die sich nähern, haben es eilig, sehr eilig.

Die Tür fliegt auf, Peters steht da. Abgehetzt sieht er aus. Er stürzt herein und reißt Rasmus an sich.

»Komm«, sagt er brüsk, »komm, beeil dich!«

Aber jetzt wird Rasmus über alle Begriffe böse. Was wollen die eigentlich alle, was reißen die nur so herum heute früh? Zuerst den Kapitän von der »Hilda« und jetzt ihn.

»Stell dir vor, daß ich das aber nicht will!« schreit er wütend.

»Hau ab, blöder Peters!«

Da beugt sich Peters zu ihm, und mit einem harten Griff hebt er ihn hoch. Er geht zur Tür. Die Aussicht, von Eva-Lotte, Kalle und Anders weg zu müssen, erschreckt Rasmus maßlos. Er strampelt und schreit: »Ich will nicht – ich will nicht – ich will nicht!«

Eva-Lotte schlägt die Hände vors Gesicht und weint. Es ist so fürchterlich. Auch Kalle und Anders können sich kaum beherrschen. Regungslos stehen sie da und sind verzweifelt, und sie hören, wie Peters die Tür abschließt, sie hören ihn gehen und hören das Schreien von Rasmus, das leiser wird, immer leiser und leiser …

Aber dann kommt Leben in Kalle. Noch hat er seinen Schlüssel. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie müssen wenigstens das traurige Ende der Geschichte mit ansehen, um nachher der Polizei davon berichten zu können. Dann, wenn es zu spät ist und Rasmus und der Professor verschwunden sind – irgendwohin, wo die schwedische Polizei sowieso nichts mehr ausrichten kann.

Sie liegen hinter dichtem Gebüsch an der Anlegestelle. Dort ist das Wasserflugzeug. Und dort kommen Blom und Svanberg mit dem Professor. Der Gefangene, dem die Arme auf dem Rücken gebunden sind, leistet keinen Widerstand. Er wirkt beinahe apathisch. Er läßt sich in das Boot stoßen, das ihn zum Flugzeug bringt, klettert ins Flugzeug, setzt sich und starrt aus-druckslos vor sich hin. Dort kommt Peters aus seinem Haus gelaufen. Er trägt immer noch Rasmus, und Rasmus strampelt und schreit noch genauso laut und herzzerreißend wie vorher.

»Ich will nicht – ich will nicht – ich will nicht!«

Schnell läuft Peters über den Steg auf das Boot zu, das sie zum Flugzeug bringen soll. Als der Professor seinen Sohn sieht, zeigt sein Gesicht so viel Verzweiflung, wie es die unsichtbaren Zuschauer nicht für möglich gehalten hätten.

»Ich will nicht – ich will nicht!« brüllt Rasmus. In rasender Wut schlägt Peters ihm ins Gesicht, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber wilder und lauter als zuvor brüllt jetzt Rasmus:

»Ich will nicht – ich will nicht!«

Da steht plötzlich Nicke auf dem Steg. Sie haben gar nicht gesehen, woher er kam. Er ist rot im Gesicht, und seine Hände sind zu Fäusten geballt. Aber er rührt sich nicht, steht nur still und sieht Rasmus mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Sorge und Mitleid in den Augen nach.

»Nicke!« schreit Rasmus. »Hilf mir, Nicke! Nicke, hörst du mich denn nicht?« Die kleine schreiende Stimme bricht; er weint haltlos und reckt die Hände zu seinem Nicke, der so nett war und so schöne Borkenboote für ihn geschnitzt hat.

Und dann geschieht es. Wie ein großer, wilder, rasender Stier stürmt Nicke über den Steg. Kurz vor dem Boot hat er Peters eingeholt, und mit einem Stöhnen reißt er Rasmus an sich.

Er gibt Peters einen Schwinger unter das Kinn, und Peters tau-melt. Bevor er zu sich kommt, ist Nicke mit großen Sprüngen auf und davon. Peters schreit ihm nach, und Eva-Lotte schaudert zusammen, denn so einen Schrei hat sie noch nie gehört.

»Bleib stehen, Nicke! Sonst schieße ich dich über den Haufen!«

Aber Nicke bleibt nicht stehen. Er drückt Rasmus nur noch fester an sich und läuft auf den Wald zu.

Da fällt ein Schuß. Und noch einer. Aber Peters ist wohl zu aufgeregt, um richtig zielen zu können. Nicke läuft weiter und ist bald zwischen den Bäumen verschwunden. Der Wutschrei, den Peters ausstößt, ist kaum noch menschlich zu nennen. Er winkt Blom und Svanberg. Zusammen rennen sie dann dem Ge-flohenen nach.

Kalle, Anders und Eva-Lotte bleiben hinter dem Gebüsch liegen und starren entsetzt zum Wald. Was geschieht dort zwischen den Bäumen? Ein schreckliches Gefühl, nichts sehen zu können – nur Peters’ schauderhafte Stimme zu hören, die flucht und schreit und langsam immer tiefer im Walde verklingt.

Kalle sieht in die andere Richtung. Zum Flugzeug. Immer noch sitzt der Professor mit dem Piloten, der ihn bewacht, in der Maschine. Sonst ist niemand mehr da.

»Anders«, flüstert Kalle, »borg mir dein Messer.«

Anders zieht das Lappenmesser aus dem Gürtel.

»Was hast du vor?« flüstert er zurück.

Kalle betastet prüfend die Messerschneide.

»Sabotage!« sagt er. »Sabotage am Flugzeug. Habe ich mir gerade eben ausgedacht.«

»O ja, du, mit dem buckligen Schädel ist das tadellos ausgedacht«, flüstert Anders ermunternd.

Kalle hat die Kleider ausgezogen.

»In einer Minute oder so – einige kräftige Schreie«, sagt er zu den anderen, »damit der Pilot abgelenkt wird.«

Kalle macht sich auf den Weg. In weitem Bogen schleicht er zwischen den Bäumen zur Anlegestelle. Und als Eva-Lotte und Anders ihren Indianerschrei ausstoßen, springt er die freiliegen-den Meter bis zum Steg und schlüpft ins Wasser. Er hat richtig gerechnet, der Pilot blickt wachsam in die Richtung, aus der der Schrei kam, und sieht deshalb den schlanken Jungenkörper nicht, der wie ein Blitz vorbeischießt.

Kalle schwimmt unter der Brücke. Lautlos, wie es so oft im Krieg der Rosen geübt worden ist. Dann von der Brücke aus noch einige Schwimmstöße unter Wasser, und er hat das Flugzeug erreicht. Vorsichtig sieht er nach oben. Der Pilot ist durch die offene Kabinentür zu sehen. Er sieht auch den Professor, und, was mehr ist, der Professor sieht ihn. Noch immer starrt der Pilot zum Wald hin, ohne etwas zu entdecken. Kalle hebt das Messer und macht einige stechende Bewegungen in die Luft hinein, damit der Professor versteht, was er vorhat.