Ein kalter Schauer überlief Tracy.
Ernestine kam zu Tracy undblickte auf sie herunter.»Wir sind deine Freundinnen. Wir kümmern uns um dich und sind nett zu dir. «Ihre Stimme war heiser vor Erregung.
Tracy drehte sich wütend um.»Laßt mich in Ruhe! Ich… ichbin nicht…«.
Die Schwarze gluckste.»Dubistbald so, wie wir dich haben wollen, Baby.«
«Wir haben Zeit. Viel Zeit«, sagte die Mexikanerin. Das Licht
ging aus.
Die Dunkelheit war Tracys Feindin. Starr vor Nervosität saß sie auf der Kante ihrer Pritsche. Die anderen warteten nur darauf, über sie herzufallen. Das spürte sie. Oderbildete sie es sichbloß ein? Sie war so überreizt, daß ihr alles alsBedrohung erschien. Hatten die Frauen siebedroht? Nicht richtig. Vielleicht versuchten sie nur, nett zu sein, und sie sah Gespenster. Natürlich hatte sie schon von homosexuellen Aktivitäten im Gefängnis gehört, aber das war doch wohl die Ausnahme und nicht die Regel. Vom Wachpersonal wurde so etwas gewiß nicht geduldet.
Trotzdem verstummten ihre Zweifel nicht. Tracybeschloß, die ganze Nacht wach zubleiben. Wenn eine der Frauen ihr zu nahe kam, würde sie um Hilfe rufen. Das Wachpersonal war dafür verantwortlich, daß den Gefangenen nichts passierte. Kein Grund zur Aufregung, Tracy. Du mußt nur auf der Hut sein.
Tracy lauschte auf jedes Geräusch. Sie hörte, wie die drei Frauen nacheinander auf die Toilette gingen und anschließend zu ihren Pritschen zurücktappten. Als Tracy es nicht mehr aushielt, ging auch sie auf die Toilette. Die Spülung funktionierte nicht. Der Gestank war fast unerträglich. Sie eilte zu ihrer Pritsche zurück und setzte sich wieder auf die Kante. Es wirdbald hell, dachte sie. Morgen frühbitte ich um ein Gespräch mit dem Direktor. Ich werde ihm sagen, daß ich ein Kind erwarte. Er wird mich in eine andere Zueile verlegen.
Tracy war am ganzen Leibverspannt. Sie legte sich auf die Pritsche. Sekunden später krabbelte etwas über ihren Hals. Sie unterdrückte einen Schrei. Ich muß durchhaltenbis morgen früh, dachte Tracy. Morgen früh ist alles in Ordnung.
Um drei Uhr fielen ihr die Augen zu.
Sie wurde dadurch wach, daß sich eine Hand über ihren
Mund legte und zwei andere Hände nach ihrenBrüsten tasteten. Sie versuchte, sich aufzusetzen und zu schreien. Das Nachthemd wurde ihr vom Körper gerissen. Dann die Unterhose. Tracy wehrte sich verzweifelt, kämpfte, wollte hoch von der Pritsche.
«Immer mit der Ruhe«, flüsterte eine Stimme aus dem Dunkel.»Dann tut's nicht weh.«
Tracy drosch mitbeidenBeinen in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ihre Füße klatschten gegen pralles Fleisch.
«Carajo!«keuchte die Stimme.»Du Sau! Dir werden wir's zeigen!«
Ein Faustschlag traf Tracys Gesicht, ein zweiter ihren Magen. Jemand war über ihr, drückte sie nieder, würgte ihr die Luft ab, während Hände sie obszönbefingerten.
Tracy konnte sich einen Moment lang losreißen, aber dann packte sie eine der Frauen und schlug ihren Kopf gegen die Gitterstäbe. Blut spritzte ihr aus der Nase. Sie wurde auf denBoden geworfen und an Armen undBeinen festgehalten. Tracy sträubte sich mit aller Kraft, doch sie war den dreien nicht gewachsen. Kalte Hände und heiße Zungen liebkosten ihren Körper. IhreBeine wurden auseinandergestemmt. Etwas Kaltes und Hartes wurde in sie hineingestoßen. Sie wand sich hilflos, versuchte zu schreien. Ein Arm legte sich über ihren Mund, und Tracy grubdie Zähne in das fremde Fleisch undbiß zu, so fest sie konnte.
Ein dumpfer Schrei.»Du miese Fotze!«
Fäuste trommelten ihr ins Gesicht… Schmerz hüllte sie ein, und sie sank tiefer, immer tiefer, bis sie schließlich nichts mehr spürte.
Die schrille Glocke weckte sie. Sie lag nackt auf dem kaltenBoden der Zelle. Die anderen Frauen lagen auf ihren Pritschen.
Auf dem Flur rief Old Iron Pants:»Aufstehen!«Als sie an der
Zelle vorbeikam, sah sie Tracy. Sie lag in einer kleinenBlutlache, das Gesicht grün undblau geschlagen, ein Auge zugeschwollen.
«Was ist denn hier los?«Die Aufseherin sperrte die Tür auf und trat in die Zelle.
«Die muß von ihrer Pritsche gefallen sein«, sagte Ernestine Littlechap.
Die Aufseherin ging zu Tracy und stieß sie mit dem Fuß an.»He! Steh auf.«
Tracy hörte die Stimme wie aus weiter Ferne. Ja, dachte sie, ich muß aufstehen. Ich muß hier weg. Aber sie konnte sich nichtbewegen. Ihr ganzer Körper war wie eine offene Wunde.
Die Aufseherin packte Tracybei den Ellenbogen und zerrte sie in eine halbsitzende Stellung. Es tat so weh, daß Tracy fast ohnmächtig wurde.
«Was ist passiert?«
Mit dem einen Auge sah Tracy verschwommen ihre Zellengenossinnen, die stumm auf ihre Antwort warteten.
«Ich… ich…«Tracy versuchte weiterzusprechen, doch siebrachte kein Wort über die Lippen. Sie versuchte es noch einmal. Und irgendein tief verwurzelter Instinkt ließ sie sagen:»Ichbin von meiner Pritsche gefallen…«
«Du lügst!«fauchte die Aufseherin.»Ich hasse das. Wir werden dich ins Loch stecken, damit du einbißchen Respekt lernst.«
Es war eine Art Vergessenheit, eine Rückkehr in den Mutterleib. Sie war allein im Dunkeln. Die enge Zelle im Keller war leerbis auf eine dünne, abgewetzte Matratze, die auf dem kalten Zementfußboden lag. Ein stinkiges Loch imBeton diente als Toilette. Tracy lag in undurchdringlicher Schwärze und summte Lieder vor sich hin, die ihr Vater ihr vor langer Zeitbeigebracht hatte. Sie wußte nicht, wie nah sie dem Wahnsinn war.
Und sie wußte auch nicht genau, wo sie war. Aber das war egal. Es gabnur eins: Die Leiden ihres mißhandelten Körpers. Ich muß hingefallen sein und mir weh getan haben. Aber Mama kümmert sich schon darum. Mit gebrochener Stimme rief sie:»Mama, Mama…«, und als keine Antwort kam, schlief sie wieder ein.
Sie schlief achtundvierzig Stunden, und an die Stelle der Qual trat Schmerz, und an die Stelle des Schmerzes trat Elend. Tracy öffnete die Augen. Das Nichts umgabsie. Es war so dunkel, daß sie nicht einmal die Umrisse der Zelle erkennen konnte. Erinnerungen kehrten wieder. Man hatte sie zum Arzt gebracht. Sie hörte seine Stimme:»… eine Rippe gebrochen, Fraktur an der Handwurzel… Die Platzwunden und Prellungen sehen ziemlichböse aus, aber das heilt schon wieder… Sie hat das Kind verloren…«
«Mein Kind«, flüsterte Tracy.»Sie haben mein Kind ermordet.«
Und sie weinte. Siebeweinte ihr Kind. Siebeweinte sich selbst. Siebeweinte die ganze kranke Welt.
Dann lag sie auf der dünnen Matratze im Dunkel und war von solchem Haß erfüllt, daß es sie schüttelte. Ihre Gedanken loderten auf undbrannten alles nieder, bis nur noch eine Empfindung in ihr war: der Wunsch nach Rache. Nicht Rache an ihren Zellengenossinnen. Die waren Opfer wie sie. Sondern Rache an den Männern, die ihr Leben zugrunde gerichtet hatten.
Joe Romano:»Ihre Frau Mama hat mir was vorenthalten. Sie hat mir nicht verraten, daß sie eine geile Tochter hat…«
Anthony Orsatti:»Joe Romano arbeitet für einen Mann namens Anthony Orsatti. Und Orsatti hat das Sagen in New Orleans…«
Perry Pope:»Wenn Sie sich schuldigbekennen, ersparen Sie dem Staat die Prozeßkosten…«
Richter Henry Lawrence:»… denn die nächsten fünfzehn
Jahre werden Sie im Gefängnis verbringen…«
Das waren ihre Feinde. Und dann war da noch Charles, der ihr nicht einmal zugehört hatte:»Herrgott, wenn du so dringend Geld gebraucht hast, hättest du es mir doch sagen können… Offenbar habe ich dich nie richtig gekannt… Mach mit deinem Kind, was du für richtig hältst…«
Sie würden es ihrbüßen müssen. Tracy wußte noch nicht, wie, aber sie wußte, daß sie es schaffen würde.
Alles fiel von ihr ab, bis nur noch ein Glosen in ihr war. Kalte Glut.
7
Die Zeit verlor jedeBedeutung. Es drang nie Licht in die Zelle, und so gabes keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und Tracy wußte nicht, wie lange sie in Dunkelhaft saß. Von Zeit zu Zeit wurde kaltes Essen durch eine Klappe am unteren Ende der Tür geschoben. Tracy hatte keinen Appetit. Aber sie zwang sich, ihren Teller leer zu essen. Du mußt was essen, sonst machst du's hier nicht lang. Jetztbegriff sie es. Jetzt wußte sie, daß sie all ihre Kraftbrauchen würde für das, was sie plante. Siebefand sich in einer Lage, die jeder andere für hoffnungslos gehalten hätte. Sie war zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Sie hatte kein Geld und keine Freunde, hatte nichts. Aber tief in ihr war ein Quell der Stärke. Ich werde überleben, dachte Tracy. Ja, sie würde überleben, wie ihre Vorfahren überlebt hatten. Sie hatte englisches und irisches und schottischesBlut in ihren Adern, und sie hatte diebesten Eigenschaften dieser Völker geerbt: Intelligenz und Mut und Willenskraft. Meine Vorfahren haben Hungersnöte, Seuchen und Sturmfluten überlebt, und ich werde das hier überleben. Sie waren jetztbei ihr in ihrer höllischen Zelle: die Hirten und die Trapper, die Farmer und die Krämer, die Ärzte und die Lehrer — die Geister der Vergangenheit, und jeder war ein Teil von ihr.»Ich werde euch nicht enttäuschen«, flüsterte Tracy in die Dunkelheit. Siebegann, ihre Flucht zu planen.