Zunächst mußte sie körperlich wieder zu Kräften kommen. Die Zelle war zu eng für intensive Gymnastik, aber sie war groß genug für Tai Chi Chuan, fürs Schattenboxen, jene uralte Kunst, die die Krieger als Vorbereitung auf den Kampf erlernt hatten. Die Übungen erforderten nur wenig Raum, aber sie
beanspruchten jeden Muskel des Leibes. Tracy stand auf undbegann mit den einleitendenBewegungen. Jede hatte einen Namen und eineBedeutung. Sie fing an mit der kämpferischen Vertreibung der Dämonen. Dann kam das sanftere Sammeln des Lichts. DieBewegungen waren anmutig und fließend und wurden sehr langsam ausgeführt. Jede rührte her aus der geistigen Mitte, und alle kehrten regelmäßig wieder. Tracy hatte die Stimme ihres Lehrers im Ohr: Erwecke dein Chi, deine Lebensenergie. Am Anfang ist sie schwer wie einBerg, doch dann wird sie leicht wie eine Vogelfeder. Tracy spürte, wie die Energie ihre Finger durchströmte, und sie sammelte sich, bis ihr ganzes Sein auf ihren Körper konzentriert war, der die zeitlosenBewegungen durchlief.
Der ganze Zyklus dauerte eine Stunde, und danach war Tracy erschöpft. Sie vollzog dieses Ritual jeden Morgen und jeden Nachmittag, bis sich ihr Leibzu kräftigenbegann.
Wenn sie ihren Körper nicht übte, übte sie ihren Geist. Sie lag im Dunkeln und rechnete komplizierte Gleichungen aus, sie arbeitete in Gedanken an ihrem Computer in derBank, sie löste Denksportaufgaben, sie sagte Gedichte auf, sie rekonstruierte so wörtlich wie möglich den Text der Stücke, bei denen sie am College mitgespielt hatte. Sie war eine Perfektionistin, und wenn sie damals eine Rollebekommen hatte, die mit einembestimmten Akzent gesprochen werden mußte, hatte sie, bevor das Stück einstudiert wurde, wochenlang diesen Akzent geübt. Einmal war ein Talentsucher an sie herangetreten und hatte ihr eine Drehprobe in Hollywood angeboten.»Nein, danke«, hatte ihm Tracy gesagt,»ich will nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Das ist nichts für mich.«
Sie hörte Charles' Stimme: Dubist die Schlagzeile in der Philadelphia Daily News…
Tracy verbannte diese Erinnerung aus ihrem Gedächtnis. Es gabPforten in ihr, die von nun an verschlossenbleiben
mußten. Sie hatte sich darauf zu konzentrieren, wie sie ihre Feinde vernichten würde. Einen nach dem andern. Siebesann sich auf ein Spiel, das sie als Kind gespielt hatte: Wenn man die Hand in den Himmel hob, konnte man die Sonne auslöschen.
Und das hatten ihre Feinde mit ihr gemacht: Sie hatten die Hand gehoben und ihr Leben ausgelöscht.
Tracy wußte nicht, wieviel Gefangene durch die Dunkelhaft seelisch gebrochen worden waren. Es wäre ihr auch egal gewesen.
Als die Zellentür am siebten Tag geöffnet wurde, war Tracy geblendet vom Licht, das plötzlich hereinströmte. Ein Wärter stand draußen.»Auf geht's. Du kommst wieder nach oben.«
Er streckte die Hand aus, um Tracy auf dieBeine zu helfen, doch zu seiner Verblüffung stand sie mühelos auf und ging ohne Hilfe aus der Zelle. Die anderen Gefangenen, die er aus dem Loch geholt hatte, waren erledigt oder trotzig gewesen, aber diese war weder das eine noch das andere. Eine Aura von Würde umgabsie, und sie strahlte ein Selbstbewußtsein aus, das sich seltsam abhobvon diesem Ort. Tracy stand im Licht und wartete, bis sich ihre Augen allmählich wieder an die Helligkeit gewöhnten. Die würde ich gern vögeln, dachte der Wärter. Wenn die gewaschen ist, kannst du dich mit der überall sehen lassen. Die tut sicher was für mich, wenn ich was für sie tue.
Und er sagte:»So 'n hübsches Mädchen sollte man nicht ins Loch stecken. Wenn wir gute Freunde wären, würde ich dafür sorgen, daß das nicht noch mal passiert.«
Tracy drehte sich um undblickte ihn an, und als er den Ausdruck in ihren Augen sah, beschloß er unverzüglich, die Sache nicht weiter zu verfolgen.
Der Wärter führte Tracy nach oben und übergabsie einer Aufseherin.
Die Aufseherin rümpfte die Nase.»Heiliger Gott, du stinkst ja fürchterlich. Stell dich unter die Dusche. Deine Kleider verbrennen wir.«
Die kalte Dusche war ein Genuß. Tracy wusch sich die Haare und schrubbte sich von Kopfbis Fuß mit der harten Kernseife. Dann trocknete sie sich abund zog frische Kleider an. Die Aufseherin wartete schon auf sie.»Der Direktor will mit dir reden.«
Als Tracy diese Worte zum letzten Mal gehört hatte, hatte sie geglaubt, die Freiheit winke. So naiv würde sie nie wieder sein.
DirektorBrannigan stand am Fenster, als Tracy in seinBüro kam. Er drehte sich um und sagte:»Bitte, nehmen Sie Platz. «Nachdem Tracy sich gesetzt hatte, fuhr er fort:»Ich war in Washington, bei einer Tagung, undbin erst heute morgen zurückgekommen. Ich habe einenBericht über den Vorfall gelesen. Man hätte Sie nicht in Einzelhaft stecken sollen.«
Tracy saß da undbeobachtete ihn. Ihr Gesicht war ausdruckslos, gabnichts preis.
Der Direktor schaute auf ein Papier, das auf seinem Schreibtisch lag.»DemBericht zufolge sind Sie von Ihren Zellengenossinnen sexuellbelästigt worden.«
«Nein, Sir.«
Brannigan nickte verständnisvoll.»Es ist mir klar, daß Sie Angst haben. Aber ich kann es nicht dulden, daß in diesem Gefängnis die Häftlinge das Regiment führen. Ich möchte die Frauenbestrafen, die Ihnen das angetan haben. Doch dazubrauche ich Ihre Aussage. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen nichts passieren kann. Und jetzt erzählen Sie mirbitte genau, was geschehen ist und wer dafür verantwortlich war.«
Tracyblickte ihm in die Augen.»Ich. Ichbin von meiner Pritsche gefallen.«
Der Direktorbetrachtete sie lange. Tracy sah, daß Enttäuschung sein Gesicht verdüsterte.»Sind Sie sicher?«
«Ja, Sir.«
«Und Sie werden es sich nicht noch anders überlegen?«
«Nein, Sir.«
Brannigan seufzte.»Na schön. Wie Sie meinen. Ich werde Sie in eine andere Zelle verlegen, wo…«
«Das will ich nicht.«
Erblickte sie verdutzt an.»Sie… Sie wollen in Ihre alte Zelle zurück?«
«Ja, Sir.«
Branniganbegriff es nicht. Vielleicht hatte er sich in dieser Frau getäuscht. Vielleicht hatte sie das Ganze selbst provoziert. Was diese verdammten Insassinnen taten und dachten, das wußte nur Gott der Herr. Er wünschte sichbloß eins: versetzt zu werden in ein ruhiges, halbwegs normales Männergefängnis. Aber seiner Frau und seiner kleinen Tochter Amy gefiel es hier. Sie wohnten in einembezaubernden Haus, und die Gefängnisfarm hatte eine ebensobezaubernde Umgebung. Für diebeiden war es, als lebten sie auf dem Land. Er dagegen mußte sich vierundzwanzig Stunden am Tag mit diesen verrückten Weibsbildern herumschlagen.
Branniganblickte die junge Frau an, die vor ihm saß, und sagte linkisch:»Also gut. Dann sehen Sie zu, daß Sie sich in Zukunft aus allen Konflikten heraushalten.«