Es war ein regelrechtes Spiel geworden in diesemBüro. Sie waren fest entschlossen, seine geheimnisvolle Zurückhaltung zu durchbrechen und herauszufinden, wer er wirklich war.
«Was machst du am Freitagabend, Dan…?«
«Wenn du nicht verheiratetbist, Dan… Sarah und ich kennen ein wirklich liebes Mädchen…«
Sahen sie denn nicht, daß er sie nichtbrauchte und nichts von ihnen wissen wollte?
«Komm doch mit, nur auf einen Drink, Dan…«
Aber Daniel Cooper wußte, wohin das führen konnte. Aus einem harmlosen Drink wurde im Nu eine Einladung zum Essen. Und damit konnten Freundschaftenbeginnen, und Freundschaften konnten zu Vertraulichkeiten führen. Und das war zu gefährlich.
Daniel Cooper lebte in Todesangst, jemand werde eines Tages von seiner Vergangenheit erfahren. Daß man die Vergangenheit mitsamt ihren Totenbegraben konnte, war eine Lüge. Die Totenblieben nichtbegraben. Alle zwei, drei Jahre rührte eines der Skandalblätter die alte Geschichte wieder auf,
und Daniel Cooper verschwand für mehrere Tage. Das waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen er sichbetrank.
Daniel Cooper hätte einen Psychiater jahrelang in Atem halten können, wenn er imstande gewesen wäre, sich zu offenbaren. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden, mit irgend jemandem über seine Vergangenheit zu sprechen. Der einzige greifbareBeweis, den er noch hatte von jenem entsetzlichen Tag vor langen Jahren, war ein verblaßter und vergilbter Zeitungsausschnitt, den er sicher in seinem Zimmer verwahrte. Dort konnte ihn niemand finden. Von Zeit zu Zeit schaute er ihn sich an: alsBestrafung. Doch auch so war jedes Wort des Artikels in sein Gedächtnis eingebrannt.
Er duschte oderbadete mindestens dreimal am Tag und fühlte sich trotzdem nie sauber. Er glaubte fest an die Hölle und an das Höllenfeuer, und er wußte, daß sein einziges Heil auf Erden in derBuße lag. Er hatte zur New Yorker Polizei gehen wollen, doch da er den Anforderungen nicht genügt hatte, weil er zehn Zentimeter zu klein war, war er im Versicherungswesen gelandet und Detektiv geworden. Er sah sich als Jäger, der die Gesetzesbrecher aufspürte. Er war die Rache Gottes, er war das Instrument, das Gottes Zorn über die Missetäterbrachte. Nur so konnte er für die VergangenheitBuße tun und sich rüsten für die Ewigkeit.
Er überlegte sich, obihm noch Zeit zum Duschenblieb, bevor er zum Flughafen mußte.
Daniel Cooper hielt sich zunächst in New Orleans auf. Fünf Tage verbrachte er dort, und als er wieder abreiste, wußte er über Joe Romano, Anthony Orsatti, Perry Pope und Richter Henry Lawrence alles, was er wissen mußte. Cooper las das Protokoll von Tracy Whitneys Einvernahme und Verurteilung. Er suchte Lieutenant Miller auf und erfuhr vom Selbstmord von Tracy Whitneys Mutter. Er unterhielt sich mit Otto Schmidt und fand heraus, wie die Firma ruiniert worden war. Bei all seinen
Gesprächen machte sich Cooper keine einzige Notiz, aber er hätte jedes wortwörtlich wiedergeben können. Er war zu 99 Prozent von Tracy Whitneys Unschuld überzeugt. Doch das genügte ihm nicht. Der einzige Prozentpunkt Unsicherheit war für ihn nicht akzeptabel. Er flog nach Philadelphia und führte eine Unterredung mit Clarence Desmond, dem stellvertretenden Direktor derBank, bei der Tracy Whitney gearbeitet hatte. Charles Stanhope junior hatte sich geweigert, ihn zu empfangen.
Und als Cooper nun die junge Fraubetrachtete, die ihm gegenübersaß, war er hundertprozentig davon überzeugt, daß sie nichts mit dem Diebstahl des Gemäldes zu tun hatte. Jetzt konnte er seinenBericht schreiben.
«Romano hat Sie reingelegt, Miß Whitney. Früher oder später hätte er sowiesobehauptet, dasBild sei gestohlen worden, und Anspruch auf die Versicherungssumme erhoben. Sie sind ihm gerade recht gekommen und haben ihm sein Vorhaben erleichtert.«
Tracys Herz schlug schneller. Dieser Mann wußte, daß sie unschuldig war. Wahrscheinlich hatte er so vielBeweise gegen Joe Romano gesammelt, daß er sie vollständig entlasten konnte. Er würde mit dem Gefängnisdirektor oder mit dem Gouverneur reden und sie von diesem Alptraum erlösen. Es fiel ihr plötzlich schwer zu atmen.»Dann helfen Sie mir?«
Daniel Cooper war perplex.»Ich soll Ihnen helfen?«
«Ja, damit ichbegnadigt werde oder…«
«Nein.«
Das Wort war wie eine Ohrfeige.»Nein? Aber warum nicht? Sie wissen doch, daß ich unschuldigbin…«
Wie konnte man nur so dämlich sein?» Mein Auftrag ist erledigt«, sagte Daniel Cooper sachlich.
Als er wieder in seinem Hotelzimmer war, zog sich Cooper sofort aus und ging unter die Dusche. Er wusch sich gründlich von Kopfbis Fuß und ließ das dampfend heiße Wasser fast eine halbe Stunde über seinen Körper laufen. Dann trocknete er sich ab, zog sich an, nahm Platz und schriebseinenBericht.
AN: J. J. Reynolds Aktenzeichen: Y-72–830–412
VON: Daniel Cooper
BETRIFFT: Renoir, Deux Femmes dans le Café Rouge, Öl auf Leinwand.
Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß Tracy Whitney in keiner Weise in den Diebstahl des obigen Gemäldes verwickelt ist. Ich glaube vielmehr, daß Joe Romano die Versicherung mit der Absicht abgeschlossen hat, einen Einbruchdiebstahl zu fingieren, die Versicherungssumme einzustreichen und das Gemälde an einen Privatsammler weiterzuverkaufen. Wahrscheinlich ist es mittlerweile außer Landes. Da es sich um ein rechtbekanntes Gemälde handelt, nehme ich an, daß es in der Schweiz auftauchen wird, wo ein im guten Glauben getätigter Kauf den Schutz des Gesetzes genießt. Will heißen: Wenn ein Käufer sagt, er habe ein Kunstwerk in gutem Glauben erworben, darf er es selbst dannbehalten, wenn es gestohlen ist. Empfehlung: Da es keinen konkretenBeweis für Romanos Versicherungsbetrug gibt, wird unser Klient ihn auszahlen müssen. Weiterhin wäre es sinnlos, von Tracy Whitney die Rückgabe des Gemäldesbeziehungsweise Schadenersatz zu erwarten, da sie weder über den VerbleibdesBildes unterrichtet ist, noch über Geldmittel verfügt, die ich hätte eruieren können. Außerdem wird sie die nächsten fünfzehn Jahre im Southern Louisiana Penitentiary for Women einsitzen.
Daniel Cooper hielt einen Augenblick inne, um über Tracy Whitney nachzudenken. Er vermutete, daß andere Männer sie schön gefunden hätten. Und er fragte sich, ohne eigentliches
Interesse, was fünfzehn Jahre Haft aus ihr machen würden. Es war nicht vonBelang.
Daniel Cooper unterzeichnete seinenBericht und überlegte sich, ober noch Zeit für eine weitere Dusche hatte.
9
Old Iron Pants hatte Tracy in die Wäscherei geschickt. Von den fünfunddreißig Arbeiten, die Gefangenen zugewiesen werden konnten, war dieser Jobder schlimmste. Der Raum war riesig, feucht und heiß, voll von Waschmaschinen undBügelbrettern. Ungeheure Ladungen Schmutzwäsche wurden Tag für Tag und Stunde für Stunde angeliefert. Die Waschmaschinen zu füllen und zu leeren und die schweren Körbe zu denBügelbrettern zu schleppen, war eine geisttötende und erschöpfende Arbeit.
Um 6 Uhr morgens ging es los. Alle zwei Stunden durften die Gefangenen zehn Minuten Pause machen. Am Ende des Neunstundentages waren die meisten Frauen zum Umfallen müde. Tracy tat ihre Arbeit völlig mechanisch. Sie sprach mit niemandem und spann sich ganz in ihre Gedanken ein.
Als Ernestine Littlechap erfuhr, wo Tracy arbeitete, bemerkte sie:»Old Iron Pants will dich fertigmachen.«
«Das ist mir egal«, erwiderte Tracy.
Ernestine Littlechap war verblüfft. Sie hatte hier nicht mehr das verschreckte junge Mädchen vor sich, das vor drei Wochen ins Gefängnis eingeliefert worden war, sondern eine durchgreifend gewandelte Frau. Irgend etwas hatte sie verändert, und Ernestine Littlechap hätte gern gewußt, was.
Tracy arbeitete schon über eine Woche in der Wäscherei, als eines Nachmittags eine Wärterin zu ihr kam.»Du wirst versetzt. Du sollst in die Küche. «Derbegehrteste Jobim Gefängnis.