Выбрать главу

Die Eifersucht war groß und führte oft zu gewalttätigen Szenen. Wenn die Frau einem anderen» Mann «schöne Augen machte oder gar auf dem Gefängnishof mit einem sprach und dabei erwischt wurde, erhitzten sich die Gemüter. Es herrschte ein reger postalischer Verkehr — vor allem Liebesbriefe.

DieBriefe wurden zu kleinen Dreiecken gefaltet, die sich leicht imBH oder im Schuh verstecken ließen. Tracy sah häufig den Austausch solcherBriefe zwischen Frauen, diebeim Eintritt in die Kantine oder auf dem Weg zur Arbeit aneinander vorbeigingen.

Tracy konnte oftbeobachten, wie sich Gefangene in das Wachpersonal verliebten. Diese Liebe war aus Verzweiflung, Hilflosigkeit und Unterwürfigkeit geboren. Die Gefangenen waren in allen Dingen vom Wachpersonal abhängig. Dasbetraf ihr Essen und ihr Wohlergehen, manchmal auch ihr nacktes Leben. Tracybemühte sich, für niemanden etwas zu empfinden.

Sexbeherrschte das Gefängnisbei Tag undbei Nacht, Sex unter der Dusche, auf den Toiletten, in den Zellen — undbei Dunkelheit oraler Sex zwischen den Gitterstäben hindurch. Die Frauen, die den Wärterinnen» gehörten«, wurden nachts aus der Zelle gelassen und schlüpften in die Zimmer des Wachpersonals.

Wenn das Licht ausgegangen war, lag Tracy auf ihrer Pritsche und hielt sich die Ohren zu, um die Geräusche nicht mitzukriegen.

Eines Nachts zog Ernestine eine Packung Rice Crispies unter ihrer Pritsche hervor und streute sie auf den Flur vor der Zelle.

Frauen in den Nachbarzellen taten es ihr nach.

«Was soll das?«fragte Tracy.

Ernestine wandte sich ihr zu und sagtebarsch:»Das geht dich 'n Dreck an. Bleibin der Falle und rühr dich nicht.«

Ein paar Minuten später gellte ein Entsetzensschrei aus einer der Nachbarzellen.»O Gott, nein! Nicht! Laßt mich in Ruhe! Bitte!«

Nun wußte Tracy, was geschah, und es widerte sie an. Die Schreie gellten weiter. Dann wurden sie leiser. Und schließlich war nur noch herzzerreißendes Schluchzen zu hören. Zorn loderte in Tracy. Wie konnten Frauen das nur einander antun? Sie hatte gedacht, das Gefängnis habe sie hart gemacht, doch als sie am Morgen aufwachte, merkte sie, daß sie geweint hatte: Auf ihren Wangen war das Salz getrockneter Tränen.

Tracy war entschlossen, Ernestine keinesfalls ihre Gefühle zu zeigen, und fragte sobeiläufig wie möglich:»Wofür waren denn die Rice Crispies?«

«Das ist unser Frühwarnsystem. Wenn 'ne Aufseherin kommt, hören wir sie gleich.«

Tracy stelltebald fest, daß das Gefängnis auch eine Lehranstalt war. Freilich eine recht unorthodoxe.

Es wimmelte hier von Expertinnen für alle möglichen Straftaten, die einen lebhaften Erfahrungsaustausch über Methoden desBetrugs, des Laden- undBeischlafdiebstahlsbetrieben. Siebrachten sich auf den neuesten Stand über Erpressungsverfahren im horizontalen Gewerbe und informierten einander über Polizeispitzel und Agenten.

Auf dem Gefängnishof lauschte Tracy eines Tages einem Seminar, das eine gewiefte Taschendiebin für eine faszinierte Gruppe von Jüngeren hielt.

«Die wirklichen Profis kommen aus Kolumbien. InBogota gibt's 'ne Schule, da könnt ihr für 200 Dollar alle Tricks lernen. Die hängen 'ne Schaufensterpuppe an die Decke, und die hat 'n Anzug an, mit zehn Taschen. In denen ist Geld und Schmuck.«

«Und was ist der Witz dabei?«

«Daß an jeder Tasche 'ne Glocke hängt. Wirklich gutbist du erst, wenn du alle Taschen ausräumen kannst, ohne daß es klingelt.«

Der Lehrbetriebging im Aufenthaltsraum weiter.

«Kennt jemand von euch den Schließfachtrick?«erkundigte sich eine alte Häsin.»Nein? Also: Du hängst auf 'nemBahnhof rum, bis du 'ne olle Schrulle siehst, die ihren Koffer oder 'n schweres Paket in so 'n Gepäckfach wuchten will. Du machst das für sie und gibst ihr den Schlüssel. Bloß — das ist einer von 'nem andern Fach. Wenn sie weg ist, machst du ihr Schließfach leer und verpißt dich.«

Die Zeit verstrich weder langsam noch schnell. Sie rann dahin. Die Routine änderte sich nie. Vom Wecken um 4 Uhr 40bis zum Verlöschen des Lichts um 21 Uhr war alles geregelt, bliebder äußere Ablauf immer gleich. Die Vorschriften waren unumstößlich. Die Gefangenen mußten sich zum Essen in der Kantine einfinden. Niemand durfte im Glied reden. Keine Frau durfte in ihrem Spind mehr als fünf Kosmetikartikel haben. Die

Betten mußten vor dem Frühstück gemacht werden und waren den Tag über sauber und ordentlich zu halten.

Das Gefängnis hatte eine Art eigener Musik: die schrillen Klingeln, das Schlurfen von Füßen aufBeton, das Krachen von eisernen Türen, das Flüsternbei Tag und die Schreiebei Nacht, das Knistern und Knacken in den Walkie‑talkies des Wachpersonals, das Knallen der Tablettsbei den Mahlzeiten.

Und im Hintergrund immer der Stacheldraht und die hohen Mauern, die Einsamkeit und die Isolation und der Haß, der alles durchdrang.

Tracy wurde eine Mustergefangene. Ihr Körper reagierte automatisch auf die akustischen Reize des Gefängnisalltags: den Riegel an der Zellentür, der nach dem Anwesenheitsappell vorgeschoben und morgens wieder aufgezogen wurde, wenn es zum Antreten auf den Flur ging, die Glocke zu Arbeitsbeginn undbei Arbeitsende.

Tracys Körper war gefangen, aber ihre Gedanken waren frei, und sie fuhr fort, ihre Flucht zu planen.

Die Häftlinge durften nicht nach draußen telefonieren und konnten pro Monat nur zwei Anrufe von je fünf Minuten Dauer entgegennehmen. Eine Weile nach Tracys Einlieferung meldete sich Otto Schmidt.

«Ich dachte mir, Sie wollten es vielleicht wissen«, sagte er.»Es war eine sehr schöneBeerdigung. Ich habe mich um die Kosten gekümmert, Tracy.«

«Danke, Otto. Ich… vielen Dank. «Mehr gabes nicht zu sagen.

Und weitere Anrufe erhielt sie nicht.

«Vergiß, was draußen ist«, meinte Ernestine.»Da wartet ja niemand auf dich.«

O doch, dachte Tracy. Da warten einige: Joe Romano, Perry Pope, Richter Henry Lawrence, Anthony Orsatti und Charles Stanhope junior.

Auf dem Gefängnishofbegegnete TracyBigBertha wieder.

Der Gefängnishof war ein großes, von Mauern eingegrenztes Rechteck. Eine seiner Seiten wurde von der Außenmauer des Gefängnisses gebildet. Die Häftlinge hatten jeden Vormittag eine halbe Stunde Hofgang. Hier war einer der wenigen Orte, wo sie sprechen durften, und hier sammelten sich Grüppchen und Gruppen von Frauen, um einander vor dem Mittagessen die neuesten Nachrichten und Klatschgeschichten mitzuteilen. Als Tracy zum ersten Mal auf den Hof trat, hatte sie plötzlich Freiheitsgefühle. Und dann wurde ihr klar, woran das lag: Sie war draußen, sie atmete frische Luft. Hoch oben sah sie die Sonne und Schönwetterwolken, und fern in der Tiefe desblauen Himmels hörte sie den Düsenlärm eines aufsteigenden Flugzeugs.

«He! Ich habdich schon überall gesucht«, sagte eine Stimme.

Tracy drehte sich um. Vor ihr stand die gewaltige Schwedin, die sie an ihrem ersten Tag im Gefängnis fast über den Haufen gerannt hätte.

«Ich habgehört, du gehst mit 'ner Niggerlesbe.«

Tracy wollte sich an der Frau vorbeistehlen. AberBigBertha packte sie mit eisernem Griff.»Mir gibt man keinen Korb«, zischte sie.»Sei nett zu mir, Baby. «Sie drängte Tracy an die Mauer und preßte ihren massigen Körper gegen sie.

«Laß mich los.«

«Du mußt mal tüchtig durchgewichst werden, Baby. Verstehst du, was ich meine? Von mir kannst du das kriegen. Bald gehörst du mir, Baby. «HinterBigBertha knurrte eine vertraute Stimme:»Nimm die Finger weg von ihr, du Arschloch.«

Und da stand Ernestine Littlechap mit flammendemBlick, die großen Hände zu Fäusten geballt. Die Sonne spiegelte sich auf ihrem kahlrasierten, glänzenden Schädel.

«Dubesorgst ihr's nicht richtig, Ernie.«

«Aber dirbesorg ich's gleich richtig«, fauchte die Schwarze.»Wenn du sie noch mal anmachst, kriegst du den Arsch voll. Aber so, daß du's nie vergißt.«