Выбрать главу

Ich werde es schaffen, schwor sich Tracy. Ich werde es schaffen.

An dem Morgen, an dem Tracy zuBrannigans Haus geführt wurde, begann ihr fünfter Monat in Haft. Ihr war unbehaglichbei dem Gedanken, die Frau und das Kind des Direktors kennenzulernen und ihnen womöglich nicht zu gefallen, denn sie mußte diesen Jobunbedingt haben. Er sollte ihr Schlüssel zur Freiheit sein.

Tracy trat in die große, gemütliche Wohnküche und nahm Platz. Ihre Achselhöhlen wurden feucht vor Nervosität. In der Tür erschien eine Frau, die ein altrosa Hauskleid trug.

«Guten Morgen«, sagte sie.

«Guten Morgen.«

Die Frau wollte sich setzen, überlegte es sich anders undbliebstehen. Sue EllenBrannigan hatte ein freundliches Gesicht, warblond, Mitte Dreißig und stets ein wenig geistesabwesend und konfus. Sie war dünn, neigte zur Übereifrigkeit und wußte nie genau, wie sie mit ihren kriminellen Dienstboten umgehen sollte. Sollte sie sichbei ihnen dafürbedanken, daß sie ihre Arbeit taten, oder sollte sie die Frauen einfach herumkommandieren? Sollte sie

liebenswürdig sein oder sie wie Gefangenebehandeln? Sue Ellen hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, unter Drogenabhängigen, Kidnapperinnen und Mörderinnen zu leben.

«Ichbin Mrs. Brannigan«, sagte sie.»Amy wirdbald fünf, und Sie wissen ja, wie lebhaft Kinder in diesem Alter sind. Man muß sie hüten wie einen Sack Flöhe. «Sie warf einen flüchtigenBlick auf Tracys Hände. Das Mädchen trug keinen Ehering, aber das wollte heutzutage natürlich nichts heißen. Schon gar nichtbei der Unterschicht, dachte Sue Ellen. Sie machte eine kleine Sprechpause und fragte dann taktvolclass="underline" »Haben Sie Kinder?«

Tracy mußte an dasBaby denken, das sie verloren hatte.»Nein«, sagte sie.

«Aha. «Diese junge Frau verwirrte Sue Ellen. Sie entsprach ihren Erwartungen in keiner Weise. Das Mädchen hatte fast etwas Elegantes.»Ich hole jetzt Amy. «Sue Ellen eilte aus der Küche.

Tracy schaute sich um. Das Haus war ziemlich groß und sehr hübsch eingerichtet. Es schien Tracy, als sei es Jahre her, seit sie in einer normalen Wohnung gewesen war. Das gehörte alles in eine andere Welt, in die Welt jenseits des Stacheldrahtzauns.

Sue Ellen kam mit einem kleinen Mädchen an der Hand zurück.»Amy, das ist…«Sprach man eine Gefangene mit Voroder mit Nachnamen an? Sue Ellen entschied sich für einen Kompromiß:»Das ist Tracy Whitney.«

«Hi«, sagte Amy. Sie war mager wie ihre Mutter und hatte die gleichen tiefliegenden, intelligentenbraunen Augen. Kein hübsches Kind, aber Amy hatte etwas Offenes und Freundliches, das einen rühren konnte.

Es wird mich nicht rühren, schwor sich Tracy.

«Bist du mein neues Kindermädchen?«

«Ja.«

«Judy istbedingt freigelassen, hast du das schon gewußt? Wirst du auchbedingt freigelassen?«

Nein, dachte Tracy.»Ichbin noch lange hier, Amy«, antwortete sie.

«Ach, das ist ja schön«, sagte Sue Ellen munter. Dann errötete sie verlegen.»Ich meine…«Sie führte nicht weiter aus, was sie meinte, sondernbegann, Tracy ihre künftigen Pflichten zu erläutern.»Sie essen gemeinsam mit Amy. Sie können das Frühstück für sie zubereiten und am Vormittag mit ihr spielen. Das Mittagessen macht die Köchin. Danach schläft Amy ein Stündchen, und am Nachmittag ist sie gern draußen auf dem Farmgelände. Es ist gut für ein Kind, wenn es all das Wachsen undBlühen sieht — meinen Sie nicht auch?«

«Doch.«

Die Farmbefand sich auf der anderen Seite des Gefängnisses. Ihre zwanzig Morgen Grund, bepflanzt mit Gemüse und Obstbäumen, wurden von Häftlingenbestellt. Inmitten des Geländes lag ein großer, künstlicherBewässerungsteich, der von einerBetonmauer eingefaßt war.

Die nächsten fünf Tage erschienen Tracy fast wie ein neues Leben. Unter anderenBedingungen hätte es sie gefreut, den düsteren Gefängnismauern entrinnen, sich ungehindertbewegen und frische Landluft atmen zu können, aber sie mußte ständig an ihre Flucht denken, und nichts hatte daneben Platz. Wenn ihr Dienstbei Amybeendet war, hatte sie sich im Gefängnis zurückzumelden. Jede Nacht wurde sie in ihrer Zelle eingeschlossen, dochbei Tagbliebihr immerhin die Illusion der Freiheit. Nach dem Frühstück in der Gefängnisküche ging sie zum Haus des Direktors und machte Frühstück für Amy.

Tracy hatte von Charles eine Menge übers Kochen gelernt, und die feinen Sachen in den Küchenregalen und im Kühlschrank derBrannigans führten sie in Versuchung, aber

Amy aß am liebsten etwas Einfaches: Haferbrei mit Obst oder ein Müsli. Danach spielte Tracy mit ihr oder las ihr vor. Unwillkürlichbegann sie, Amy die Spiele zu lehren, die ihre Mutter mit ihr gespielt hatte.

Amy liebte Puppen. Tracy wollte aus einer alten Socke des Direktors ein Lämmchen für sie machen, doch es wurde eine Kreuzung aus Fuchs und Ente daraus.»Es ist sehr schön«, sagte Amy ergeben.

Tracy ließ das mißglückte Lamm mit verschiedenen Akzenten sprechen: mit französischem, italienischem und mexikanischem. Den mexikanischen hatte sie Paulita abgelauscht, und denbewunderte Amy am meisten. Tracy sah die Freude im Gesicht des kleinen Mädchens und dachte: Ich werde mich nicht an siebinden. Sie ist mein Mittel zur Flucht, weiter nichts.

Nach Amys Mittagsschlaf unternahmen sie lange Spaziergänge, und Tracy sorgte dafür, daß sie Teile des Gefängnisgeländes durchstreiften, die sie noch nicht kannte. Siebeobachtete jeden Ausgang und Eingang genau, achtete darauf, mit wieviel Mann die Wachtürmebesetzt waren und wann die Wachablösung stattfand. Es wurde ihrbald klar, daß sich keiner der Fluchtpläne, die sie mit Ernestinebesprochen hatte, verwirklichen ließ.

«Hat mal jemand zu türmen versucht, indem er sich in einem der Lieferwagen versteckt hat, die hier ankommen? Ich habe schon einen mit Milch gesehen und einen mit Nahrungsmitteln und…«

«Das kannst du vergessen«, erwiderte Ernestine.»Jeder Wagen, der durchs Tor fährt, wird durchsucht.«

Eines Morgens sagte Amybeim Frühstück:»Ich habdich lieb, Tracy. Willst du meine Mutter sein?«

Diese Worte gaben Tracy einen Stich ins Herz.»Eine Mutter ist genug. Dubrauchst nicht zwei.«

«Doch. Der Vater von meiner Freundin Sally Ann hat noch mal geheiratet, und Sally Ann hat zwei Mütter.«

«Dubist aber nicht Sally Ann«, entgegnete Tracy schroff.»Iß auf.«

Amyblickte sie tief verletzt an.»Ich habkeinen Hunger mehr.«

«Na schön, dann lese ich dir vor.«

Als Tracy vorzulesenbegann, spürte sie Amys kleine Hand auf der ihren.

«Darf ich auf deinem Schoß sitzen?«

«Nein. «Hol dir die Zuwendungbei deiner Familie, dachte Tracy. Du gehörst mir nicht an. Niemand gehört mir an.

Der Umstand, daß sie tagsüber von der Gefängnisroutine erlöst war, machte die Nächte nur noch schlimmer. Tracy haßte es, in ihre Zelle zurückzukehren, verabscheute es, eingesperrt zu sein wie ein Tier. Sie konnte sich nicht an die Schreie gewöhnen, die in der Dunkelheit aus den Nachbarzellen drangen. Sie knirschte mit den Zähnen, bis ihr die Kiefer weh taten. Ich muß es durchstehen, dachte sie. Und ich werde es durchstehen. Sie schlief wenig, weil es in ihrem Kopf unaufhörlich arbeitete. Die Flucht war der erste Schritt. Die Rache an Joe Romano, Perry Pope, Richter Henry Lawrence und Anthony Orsatti der zweite. Und die Rache an Charles war der dritte. Aber noch war auch nur derbloße Gedanke daran zu schmerzlich. Damitbefasse ich mich, wenn die Zeit reif ist, sagte sich Tracy.

Es gelang ihr nicht mehr, BigBertha aus dem Weg zu gehen. Tracy war sicher, daß die kolossale Schwedin ihr nachspionierte. Wenn sie in den Aufenthaltsraum trat, tauchte wenige Minuten späterBigBertha auf, und wenn sie auf dem Hof war, erschienBigBertha kurz danach.

Eines Tages watschelte sie auf Tracy zu und sagte:»Du